Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Der substantielle Geist
Ideal der Bildlosigkeit
Die zweite Sonder-Betrachtung, die ich hier den allgemeinen dieses Kapitels anreihen möchte, betrifft das Ideal der Bildlosigkeit, welches der Wüstengott, der auf dem Sinai thronte, in die Worte fasste:
Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen.
Lange wusste ich, dass es sich hier um keine Spezialität des semitischen Geistes handelt mit dessen angeblichem Mangel an Sinn für Anschaulichkeit. Auch die indische Weisheit lehrt, das Höchste sei, über Name und Form hinauszugelangen. Mit noch größerer Ausgesprochenheit lehrt Gleiches der chinesische und japanische Zen, und gerade bevor ich daranging, dieses niederzuschreiben, fand ich auch längere Ausführungen Meister Eckharts ähnlichen Sinnes (in seiner Predigt Von der ewigen Geburt
). Vom rechten Menschen im rechten Augenblicke recht verstanden, drückt das Gebot, das noch heute die eigentliche Seele der spezifisch islamischen Frömmigkeit ist und, wie die einzigartige Werbekraft gerade dieser unter allen alten Religionen beweist, offenbar auch rechtgestimmten Massen unmittelbar einleuchtet, in absolutem Verstande Gültiges aus. Soviel war mir schon in meiner Jugend klar. Doch bisher fehlte mir das dem heutigen Menschen notwendige Verbindungsglied zwischen metaphysischer Intuition und normal-psychologischem Erleben. Jetzt glaube ich es gefunden zu haben.
Die Seele lebt in Bildern und durch Bilder und überdies von ihnen. Diese Bilder haben in der empirischen Substanz jener ihren Ursprung und bedeuten, sowohl vom physisch-Äußerlichen wie vom metaphysisch-Innerlichen her beurteilt, in erster Instanz Überschichtungen. Diesen Aspekt ihrer betont die indische Maya-Lehre; erst nachdem alle Bilder sich verflüchtigt haben, gleich wie Ektoplasmen der Medien zurückgenommen werden, könne die Sonne der absoluten Wahrheit hindurchdringen. Andrerseits nun aber sind die Bilder die der Seele einzig gegebenen Ausdrucksmittel des Absoluten; wer sie drum nicht als letzte Instanz anerkennt, sich in Eckharts Sprache nicht ihrer annimmt
, sondern sich in buchstäblichem Verstande in sie versenkt, dem werden sie zu Bildern des Sinns und gestatten damit dem Geist, das rein Geistige durch sie hindurch zu erleben. Erlebnismäßig wird der Mensch dann durch sie ergriffen und verwandelt; erkenntnismäßig geurteilt, schaut er alsdann durch sie hindurch. Da es nun nur ganz wenige Menschen gibt, deren Bewusstseinszentrum ursprünglich jenseits von Name und Form west, so erweist sich als gangbarster Weg der allermeisten zum Metaphysischen der — Bilderdienst. Also eben der, welchen Jahveh verabscheute. Mir persönlich ist noch keiner begegnet, auch weiß ich mit Sicherheit von keinem großen Geiste irgendeiner Zeit, der nicht vom Bilderdienste im weitesten Verstande ausgegangen wäre. Denn das Bild der Bilder ist ja für den verstehen-wollenden Menschen das Wort. In dessen Bildhaftigkeit liegt sein ursprüngliches Wesen. Auch der also, welcher Worte und Sätze meditiert, treibt insoweit Bilderdienst.
Strikt genommen, haben demnach auch die semitischen Wüstenvölker das Gebot ihres Gottes nicht befolgt. Nichtsdestoweniger besteht ein tiefer psychologischer Unterschied zwischen Religiösen, welche Bilderdienst bewusst bejahen, und denen, welche ihn bewusst verneinen. Und zwar ist der Unterschied zwischen dem bilderfreudigen Hinduismus und dem bilderfeindlichen Islam der psychologisch gleiche wie der zwischen Katholizismus und Calvinischem Protestantismus. Was bedeutet das?
Gehen wir von den erwiesenen Vorzügen des Mohammedaners aus, weil dieser die Eigenschaften, die alle gleichartig Eingestellten kennzeichnen, in reinster und extremster Form offenbart. Er ist der gottvertrauendste und innerlich befriedetste aller Menschen. Er steht gleichsam von vornherein am Ziel. Letzteres aber darum, weil er vollkommen sicher in sich selbst ruht. Dadurch, dass er bei jedem Willensentschluss das Deo concedente, Wenn Allah so will
, mitdenkt und nie vorstellt, was ihm nicht gesandt wird und damit zu-fällt, erscheint er psychisch niemals außer Gleichgewicht, sogar dann nicht, wenn er fanatisch ein bestimmtes Ziel verfolgt; denn hier kompensiert absoluter Schicksalsglaube den Willens-Einsatz. — Die psychologische Wurzel dieser, wie mir scheint, unbedingten Vorzüge liegt nun eben im Gebot der Bildlosigkeit. In den Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
analysierte ich einmal kurz den Sinn des Mythos von Narziss: indem dieser sich in sein Abbild versenkte und verliebte, bis dass er sich mit ihm identifiziert hatte, kam er sich selbst abhanden. Er lebte als bewusstes Wesen nicht mehr aus seinem schöpferischen und dem Bewusstsein unzugänglichen Selbst heraus, sondern aus einem vorgestellten Bilde von sich selbst. Damit wurde ihm sein eigenes Leben zum betrachteten Schauspiel. Kaum war damit das organische Band zwischen Bild und Wirklichkeit zerrissen, wobei das Bewusstsein an jenen haften blieb, so war das Ich entwurzelt. Und nun war es den Mächten der Unterwelt ein Kinderspiel, den Narziss zu überwältigen und in den Tartaros hinabzuziehen.
Kein echter Mohammedaner ist eitel im Sinne des Narziss: er macht sich von sich selbst überhaupt kein Bild. Darum kann er sich selbst auch nie abhanden kommen. Von hier aus hält es nicht mehr schwer, die Lehren Indiens, des Zen, Meister Eckharts und die des Islam und Protestantismus von dem ihnen allen Gemeinsamen her zusammenzuschauen. Für das schöpferische Unbewusste gibt es keinen Unterschied zwischen früher und später, außen und innen, groß und klein, vor allem aber: zwischen Bild und Bild. Wer Gott im Bilde sieht, sieht auch sich selbst im Bilde. Wer narzisshaft zu sich selber steht, kommt damit nicht allein sich selber abhanden, er verliert zugleich seinen Gott. Was ihm bleibt, ist ein kraftloses Bild. Nun stellen die Problemlösungen von Islam und Calvinismus im ganzen Kurzschlüsse dar. Nur über Umwege gelangt der höhere Mensch zu hohem Ziel, und wer aus der Niederung geradewegs ihm zupilgert, der findet sein Gleichgewicht und seinen Frieden zu früh. Darum bleibt der Islam die Ideal-Religion des einfachen Soldaten, und der Calvinismus die des unreflektierten Geschäftsmanns. Doch der höchste Zustand dessen, der über Name und Form ganz und gar hinausgelangt ist, findet sein treuestes Spiegelbild gleichwohl im gläubig-befriedeten Araber, der nicht einmal weiß, was Selbstbespiegelung bedeutet. Von hier aus verstehen wir ganz und gar die Lehre Christi, dass das Ich sterben muss: das Bild vom Selbst muss aufhören, das Bewusstsein zu bannen, auf dass der Mensch ganz aus dem Selbst heraus leben könne. Wer sich aber kein Bild mehr von seinem Ich macht, macht sich auch keines von der Gottheit mehr. — Dies ist die Antwort, die ich in diesem Kapitel auf die Frage geben kann und möchte, ob es einen Gott gibt oder nicht.