Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Der Zwiespalt der Seele
Welt schmerzlicher Erinnerung
Die Grundlage sowohl als die ermöglichende Ursache aller seelischen Konflikte ist die Erinnerung. Wer nur im Augenblicke ohne mögliche Rückschau lebte und nur von eindeutigen Impulsen getrieben würde, für den gäbe es überhaupt keinen Zwiespalt. Wohl möchte ein solcher zaudern, bevor er sich für eine von mehreren Möglichkeiten entscheidet; hätte er sich aber einmal entschieden, dann wäre alles problemlos einfach. Denn ein Problem schließt die Tatsache des Zaudern-Könnens und Wählen-Müssens nicht ein; auch die Erinnerungsmächtigsten ringen mit keinem beunruhigenden Problem, wenn sie sich unter zwei Speisen für eine entscheiden. Die Erinnerung nun annulliert für die Rückschau alle Entscheidung und alles Ende. In der Erinnerung lebt das Tote so fort, als sei es nie gestorben, bestehen alle Möglichkeiten weiter, als sei nicht eine von ihnen ein für alle Mal auf Kosten aller anderen verwirklicht worden. Wer ein Verbrechen beging, erinnert sich so deutlich, wie er die Gegenwart wahrnimmt, der Zeit, da er es noch nicht begangen hatte und so kann er mit seinem inneren Auge nicht wahrnehmen — ich meine reines Wahrnehmen, ohne Vermengung mit Urteilen dass irgendeine Entscheidung unwiderruflich fiel, dass Geschehenes nie rückgängig zu machen ist; andererseits aber auch nicht, dass irgendetwas im Guten erledigt ist, von der wirklichen Begleichung einer Schuld über amortisiertes Karma bis zur Vergebenheit der Sünden. Im Reich des Erinnerten gibt es eben keine Entscheidung, denn das Gleiche lebt immerdar weiter, kehrt immerfort wieder; in ihr und für sie gibt es keine wahrgenommene, somit erlebte einsinnige Zeit. Hier herrscht nicht das Gesetz der Tages-Geschichte einmal und nicht wieder
, welche Geschichte die Römer so sinnvoll mit res gestae bezeichneten, sondern das der Hadeswelt der Danaiden, des Sisyphos, des Tantalos, der ewigen Höllenqual oder jener ewigen Wiederkehr, die dem sich umnachtenden Geist des unglücklichen Nietzsche als letzte Offenbarung einleuchtete. Rein theoretisch kann die Welt des Erinnerten auch eine Himmel-Welt sein, wie denn die Himmelsvorstellung das genaue Gegenbild der Höllenwelt darstellt. Alle Verstorbenen trifft man in Seligkeit wieder, in ewiger Gegenwart lebt alles Gewesene harmonisch nebeneinander fort, denn alles, auch das Allerschlimmste, führte ja letztendlich höchstem Glück und Gute zu; auch hienieden wird ja überstandenes Leid und überwundene Widerwärtigkeit als Positives erinnert. Aber Himmelswelten birgt nur die Erinnerung exzeptioneller Kinder oder aber ganz törichter, sehr blinder und vor allem verlogener aber sanguinischer Erwachsener. Je klarer und schärfer einer sieht, je wahrhaftiger sich selbst gegenüber einer ist, insofern er es aushält, sich die Tatsachen seines Erlebens so einzugestehen, wie sie tatsächlich sind oder waren, desto mehr entspricht seine Erinnerung, sofern sie überhaupt moralisch qualifiziert ist, der Hades-Welt.
Da alles Erfreuliche einmal für immer zu sein aufhörte, da es der Abstand fortschreitend schöner erscheinen lässt, so nährt aller Rückblick die Trauer im Sinne des Achill, welcher im Hades seinem Heldenleben auf Erden nachweinte. Da in der Hades-Welt nie eine Entscheidung fiel noch fallen kann, ist zu ewigen Vorwürfen ewiger Anlass. Und der geringfügigste Anlass kann als unverzeihlichstes Verbrechen erlebt werden. Ich kann im Zustande reiner Introversion noch jetzt, mit zweiundsechzig Jahren, nicht umhin, mir zwei Verschuldungen nicht zu verzeihen, welche lächerlich geringfügig waren gegenüber mancher späterer. Deren erste war die, dass ich mit sechs oder sieben Jahren mit einer Gerte eine für meine damaligen Begriffe riesige Kröte totschlug: daran wurde mir die Sünde des Mordes an sich bewusst. Deren zweite war die lieblose Art, in der ich meine Mutter, die in Sorge um mich aus der Ferne unangemeldet zu mir gereist war, für den Abend fortschickte, weil ich für diesen im Besitz einer Karte zu meiner ersten Wagnervorstellung war: daran begriff ich den Sinn sündhafter Selbstsucht. Wahrscheinlich geht es den Meisten so, dass erinnerte kleine Verfehlungen sie mehr belasten, als große. Erstere können als Sinnbilder für alles Ähnliche dienen und darum werden sie immer wieder reproduziert; letztere werden wegen ihrer massiven Einmaligkeit aus der schwebenden Welt der ewigen Wiederkehr verdrängt. Doch sehen wir von allem Sonderlichen und Besonderen ab: ist es, vom Standpunkt des wach-tätigen Lebens geurteilt, nicht eine Ungeheuerlichkeit, eine allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nicht allein, sondern auch der Billigkeit widersprechende Paradoxie, eine Grausamkeit sondergleichen, dass es zunächst dem geheimsten Zentrum intimen Erlebens eine Welt gibt, in welcher nichts vergeht, in welcher Entschiedenheiten garnichts bedeuten, weil das Unentschiedene neben dem Entschiedenen unbefangen fortlebt und dort nichts vergeben und nichts vergessen erscheint?
Man kann sich den Unterschied zwischen den Welten des gegenwärtig Erlebten und des Erinnerten nicht schroff genug vorstellen. Die Erinnerung negiert die Zeit, negiert die Veränderung, negiert die ganze Interpunktion, durch welche die Säge des Lebens in sinnvoller Betonung auf einander abgestimmt erscheinen. Sie negiert den ganzen Rhythmus, allen Kontrapunkt und allen Zusammenklang, dank welchem sein Ablauf Melodie ist und nicht Geräusch. Und dabei gehört das Erinnerte, weil es nie stirbt und sich selber ewig gleich bleibt, weil es immer da ist und von Tag zu Tag an Umfang zunimmt, viel mehr zu uns, als die verfließende Gegenwart mit ihrem tätigen Inhalt, welcher, eben weil und insofern er tätig ist, während dessen kaum überhaupt erlebt wird. Nichts natürlicher unter diesen Umständen, als dass Primitiven die Traumwelt mehr bedeutet als die des wach Erlebten, dass Völkern, welche noch mythisch zu erleben fähig sind, Ereignisse innerhalb einer bildhaft geschauten Geisterwelt wirklicher erscheinen als historische, da sie bewusst einen Mythos leben, und dass in der Hoch-Zeit innerlich lebendigen Christentums Hölle und Himmel wirklicher und gewichtiger erscheinen konnten, als die kurze Spanne des wegen der erforderlichen andauernden Betätigung halb-blind vertanen Erdenwandels. Denn die vorgestellten jenseitigen Welten und nicht die diesseitigen entsprechen derjenigen der Erinnerung.
Es ist unheimlich, wie sehr dem Menschen, dem zeitlichen Wesen par excellence, an Ewigkeit liegt. Zwei Frauen kenne ich, von denen die eine, eine Katholikin, mit ihrem verstorbenen Mann in innigerer seelischer Gemeinschaft zusammenlebt, als sie es je mit dem lebendigen vermocht hätte, und von denen die andere ihren abgöttisch geliebten Sohn erst nach dessen Tode vollkommen bei sich hatte und seither, nach einem kurzen Zwischenspiele wilder Schmerzen, viel glücklicher als vorher war. Ihr Sohn war ihr einmal im Traum erschienen, seines Fortlebens war sie gewiss, ihrer Überzeugung nach gab er ihr jedesmal, wo ihr danach verlangte, ein, was sie denken und sagen sollte; nicht ohne Mühe hinderte ich sie einmal daran, ein Buch als von ihrem Sohn geschrieben zu veröffentlichen. Der Mensch ist, in der Tat, in der Welt der inneren Bilder viel mehr zu Hause, als in derjenigen des äußerlich Gegebenen. Darum sehen frühe Menschen von der Wirklichkeit, so wie wir sie verstehen, so weit sie dieselbe überhaupt wahrnehmen, möglichst ab und benutzen sie nur als Projektionsfläche für Innerliches. Darum vertragen moderne Wirklichkeitsmenschen, umgekehrt, den unversöhnlichen Widerstreit mit diesem so schlecht, dass sie alles tun, um des Innerlichen nicht gewahr zu werden. Tagsüber machen sie Erleben durch übertriebene Arbeit, durch Arbeit bis zur Lähmung alles Innenlebens so unmöglich, als irgend geht, oder auch durch bis zur Erschöpfung betriebenen Sport oder eine dermaßen betriebsame Geselligkeit, dass Alleinsein, außer in Zeiten der Übermüdung, und damit Selbstbesinnung ausgeschlossen ist. Ihre Träume töten sie durch Alkohol und Schlafmittel und die Welt der inneren Bilder mit ihrer erschreckenden Problematik, falls sie ihrer trotzdem gewahr werden, durch entwirklichende Theorie. Daher die neue Werbekraft von Auffassungen des Christentums, welche die Existenz eines objektiven Heilsplans, einer Gottesordnung im Geiste der Naturwissenschaft und der Geschichtlichkeit des Christentums im Sinn juristischer Entscheidung behaupten. Daher vor allem der Welterfolg der Psychoanalyse mit ihrem Universalerklärungsmittel gemäß dem Schema nichts als
.
Dem innersten Erleben jedes tief empfindenden und scharfäugigen Menschen entspricht das Bild des Hades sicherlich besser als das der äußerlich wahrgenommenen Wirklichkeit. Die Hölle ist uns von Hause aus vertrauter als die Erde und sogar der Himmel als Gegenbild jener ist es im Sinn eines eigentlich sollte es so sein
. Daher alle jene durch keinerlei Erfahrung je gerechtfertigten Wunschbildtheorien, von denen die meisten nicht sehr intelligenten und seelisch oberflächlichen gläubigen Christen leben. Das Gute siege doch, Gott lasse das Übel nur als Prüfung zu, es gäbe keinen Tod, kein Verlust sei endgültig, was man liebt, mit dem bleibe man ewig verbunden: das alles sind richtige Beschreibungen dessen, was in der Welt der Erinnerung wahr ist. Auf die Welt wacher Gegenwart, in welcher alle Geschichte abrollt, treffen sie ganz bestimmt nicht zu. Es ist ob ihrer Herkunft a priori unwahrscheinlich, dass sie über das Vorgestelltsein hinausreichende Wahrheit ausdrücken. Darum haben alle tiefen, klarblickenden und mutigen Menschen die Welt und das Leben als wesentlich leiderfüllt empfunden, sofern das Erleben in der Insichgekehrtheit ihnen mehr bedeutete als das der Gegenwärtigkeit im Sinne handelnden Tagesbewusstseins. Darauf nämlich kommt es an und von hier aus löst sich der Widerspruch, welcher die andere Tatsache bedingt, dass kraftvolle Menschen wesentlich optimistisch sind und gerade die schlimmsten Erinnerungen schön finden, sofern sie sich auf Überstandenes beziehen und sich als Voraussetzungen von Weitergekommensein erwiesen haben: wer nämlich Erinnertes schön findet, der tut es vom Tagesbewusstsein aus, also in einem völlig anderen Zustande als dem, von welchem aus die Welt der Erinnerung als Hades-Bewusstsein erscheint. Darum lässt sich, noch einmal, inbezug auf alle tiefen und scharfäugigen Menschen trotz aller Gegenargumente positiv behaupten, dass sie, in sich gekehrt, die Welt und das Leben als wesentlich leidvoll empfunden haben. Dies gilt von den tiefen Christen genau so wie von den Buddhisten, von den alten Germanen mit ihrem düsteren Schicksalsglauben genau so wie von den Hellenen, deren Schönheitskult und Festfreudigkeit tief-tragisches Lebensgefühl kompensierte.
In analogem Verstande ist der besondere Ruhmkult der Griechen wohl so zu deuten, dass sie die innere Welt schmerzlicher Erinnerung in eine äußerlich objektive transponierten. Sie waren ja überhaupt in diesem Verstande objektiver, als irgendeine Menschenart vor- oder nachher: über alle Begriffe empfindsam und zu ihrem Glücke künstlerisch suprem begabt, projizierten sie möglichst alles Erlebte und Erlebbare in eine Welt reiner Objektivität hinaus, auf welche konzentriert sie die innere Qual vergessen konnten. Daher die unerreichte Plastizität der griechischen Mythen und Mythosgeborenen Formen, welche dermaßen vollendet ausgestaltet waren, dass man darob der Hintergründe und Ursprünge vergessen konnte. Es sind wahrscheinlich die einzigen Bilder dieser Art auf Erden, welchen das Hintergründliche im Ausdruck ganz oder nahezu fehlt. So kamen die Hellenen um Sündgefühl, Mitleid, Trauer, Verzweiflung und Zukunftshoffnung zugleich, soweit Imagination dies schaffen kann, herum. Die späteste und erdnächste Verkörperung gleichen Sinnes war die Tragödie, das Trauerspiel als Erledigung des persönlichen Erlebnisses der Tragik. Am Beispiel der Griechen als der reinsten Augenmenschen der bisherigen Geschichte versteht man, warum der Mensch, wo er nur kann, den Akzent auf das Sichtbare legt: das Auge distanziert. Es entsprach darum echt-hellenischer Geistesart, wenn im christlichen Byzanz mit seinem intensiven Sündgefühl als quasi-Normalstrafe für schwere Vergehen Blendung vorgesehen war.