Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der Zwiespalt der Seele

Demut und Vornehmheit

Betrachten wir zunächst, weil dies mit dem Problem der Erinnerung überhaupt am nächsten zusammenhängt, dasjenige der berühmten zwei Seelen in des Menschen Brust. Da gilt denn zunächst dies: Genau besehen und präzis gemeint ist die Behauptung unsinnig, dass jeder nur zwei Seelen besitze, und wäre sie wirklich auf Faust zugetroffen, dann wäre dieser ein armer Tropf gewesen. Hier hat (unter anderen) die japanische Psychologie tiefer geblickt als die europäische, insofern sie einem höherstehenden Menschen selbstverständlich zwanzig und mehr Seelen zuerkennt und nur ganz rohen und stumpfen bloß deren zwei bis drei. Wenn gemäß C. G. Jung richtiger Erkenntnis das Ich eigentlich ein Komplex ist, dann ist die Konsequenz schwer abzuweisen, dass man alle zur Konstitution eines Menschen gehörigen (nicht durch Zu- und Unfall verursachten) Komplexe als Teile des Gesamt­organismus anzuerkennen hat, welche freilich nicht alle dauerhaft sind, in actu jedoch samt und sonders zu einem gehören. Auch das Ich kann ja überwunden und überwachsen werden und das, was der normale Mensch unwillkürlich unter seiner Seele versteht, ist eben sein empirisches Ich. Aber Goethe hat seinen Helden gewiss nicht dürftig darstellen wollen; er wollte für eine bestimmte Wahrheit ein Sinnbild schaffen. Diese Wahrheit aber ist, alles Sonderlichen und Zufälligen entkleidet, die folgende: nach innen zu sieht jeder ehrlich nach Selbstverwirklichung Strebende sich selbst ganz anders, als er sich nach außen zu äußert, weswegen er in den meisten Fällen von anderen ganz anders gesehen wird, als er für sich ist. In meiner Reisetagebuchzeit war ich so ganz und gar auf inneres Erleben eingestellt, dass ich mich ärgerte, wenn jemand in mir den vitalen Herrenmenschen sah, denn als solchen fühlte ich mich damals überhaupt nicht. Seitdem ich nun handelnd und kämpfend in die Welt hinausgetreten bin und Erfahrungen über mein unwillkürliches Wirken auf Andere habe sammeln können, muss ich zugeben, dass die Anderen von jeher einerseits mehr recht hatten als ich; nämlich auf meine nach außen zugekehrte Seite hin. Und in den Jahren, da ich mich aus Zeitmangel beinahe ganz auf meine Beziehung zur Welt einstellen musste, wobei ich von innen her nur Einfälle und Eingebungen empfing, welche ich alsobald in Schrift, Rede und Tat überleitete, fühlte ich mich auch selber wesentlich so, wie mich die Anderen sahen und meinte, ein neuer Zustand hätte eben den früheren abgelöst. Dem war nun in Wahrheit niemals so. Ich verkannte mich einfach, so wie ich für mich bin, indem ich mich mit dem Bilde meiner identifizierte, welches die Anderen mir entgegenhielten, und verlor damit den bewussten Kontakt mit meinen tiefsten Bildekräften. Recht spät lernte ich dieses einsehen. Dann aber musste ich das Folgende feststellen: In Wahrheit fühlte ich mich für mich selber desto schwächer, je stärker ich nach außen zu wirkte. Hier nun handelt es sich nicht um Minderwertigkeitsgefühl, wie dies die Analytiker in solchen Fällen, aus ihrem Vorurteil zugunsten des Ausschlaggebenden der Beziehung zum Mitmenschen heraus summarisch behaupten, sondern um ein eminent Positives: es handelt sich um eben die Demut, welche der den Menschen gegenüber stolze und hochgemute Ritter vor Gott haben sollte. Mit den Ausdrücken Minderwertigkeitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex wird entsetzlicher Unfug getrieben und unabsehbares Unheil angerichtet. Wer fühlt sich im Analytikerverstand am minderwertigsten? Der zweifellos Heilige. Und wer am demütigsten? Der auf höchste Weltstellung Berufene und dieser innerlich Gewachsene. Diese zwei Tatsachen sagen alles; ein weiterer Kommentar ist für die Leser, welche ich meine, überflüssig.

Was tatsächlich im Inneren von Jedem, mehr oder weniger betont, Mächtigkeit nach außen zu kompensiert, ist Schwächegefühl. Das aller äußeren Willens-Leistung widersprechende Gefühl, letztlich für nichts zu können und mit sich geschehen lassen zu haben. Bei mir liegen da die Dinge folgendermaßen — ich ziehe hier Beispiele aus meinem persönlichen Leben allen anderen vor, weil jeder nur sein eigenes Erleben wirklich kennt und damit allein, was die Tatsachen betrifft, fehlerfrei beurteilen kann. Versenke ich mich in die Welt der inneren Bilder, so kann ich ohne geistige Entscheidung, die einen aktiven Eingriff bedeutet, überhaupt nicht unterscheiden, was an Bildern aus mir selbst stammt und was von Fremdem außer- oder innerhalb meiner: alle Bilder sind gleich deutlich und können gleich überwältigend sein. Da ich für mich vorzüglich in der Welt der inneren Bilder lebe und mich von solchen im Wachzustand, wenn ich nicht energisch zu handeln brauche, genau so wie im Traume ständig umgeben fühle, welche inneren Bilder desto lebendiger und deutlicher sind, je weniger ich äußerlich nicht nur tue, sondern auch erlebe, so ergibt sich für mich daraus als Grundstimmung meines Fürmich-Seins und Selbst-Erlebens eine des Stillhaltens und Abwartens im Geiste der Bereitschaft dafür, was mir geschieht, wobei mir jedes Machtbewusstsein fehlt. Denn auch die eigenen Einfälle geschehen mir, ich tue sie nicht. Wäre ich nun naiv gläubig und wären meine geistigen Erfassungsmittel dem Psychischen gegenüber so einfach, wie es die eines mittelalterlichen Ritters waren, dann läge nichts mir näher, als mittels eines primitiven Kurzschlusses alles innerliche Geschehen entweder Gott oder Dämonen zuzuschreiben und mich als Rettung Jenem in die Hand zu geben. Ähnlich empfanden ja auch die alten Griechen, insofern sie ihr Dichten und sonstiges geistiges Schaffen tatsächlich und aufrichtig dem Wirken der Muse oder den Göttern, die ihnen allein als in unserem Sinne frei galten, zuschrieben und nicht ihrer eigenen Psyche. Solcher Kurzschluss ist aber auf der Wachheitsstufe des auf der Höhe seiner Zeit stehenden heutigen Europäers ohne Selbstbelügung nicht mehr möglich. Schon gar bei einem dynamischen und aktiven Menschen, welcher sich, sobald er sich der Außenwelt zuwendet, auf Grund aller Erfahrung mit dem (verglichen mit dem des Selbsterlebens) ganz andersartig wirkenden Subjekt des Täters identifizieren muss. Denn die Menschen wirken schließlich immer so, wie sie sind, und nicht so, wie sie sich selber vorstellen.

Nun ist immer wieder der Schluss gezogen worden, das eine oder das andere Ich sei das wahre oder bessere. Zu solcher Schlussfolgerung zu gelangen, ist aber unmöglich ohne leicht durchschau- und widerlegbares Vorurteil. Nicht anders, wie die Welt der Erinnerung gegenüber derjenigen der wachen Gegenwart eine andere, anderen Gesehen folgende ist, und Erinnerung und Handeln in der Gegenwart zusammenwirken müssen, damit der ganze Mensch sich äußere, so stellen Schwächegefühl nach innen zu und machtvolle Ausstrahlung nach außen zu die Normalspannunng dar, aus welcher heraus der vollausgeschlagene Mensch lebt. Beide gehören unabtrennbar zueinander, so wie in anderen Dimensionen Ober- und Unterwelt, Gehirn und Darm. Selbstverständlich bestimme ich hiermit nur die Idee des Menschen, Goethes Urpflanze vergleichbar, nicht empirische Wirklichkeit, welch letztere je nach der Akzentlage im Gefüge der Funktionen und Begabungen eine verschiedene sein kann. So gibt es rein kontemplative Naturen, für die es normal ist, nach außen zu nichts zu vermögen, und rein aktive, für die es ebenso normal ist, garnicht zu erleben. Nichtsdestoweniger ist die vorher bestimmte Spannung sozusagen die ideale Normalspannung. Und dies zwar aus dem folgenden Grund: Bei jedem Menschen ist, nach innen zu gesehen, seine Schwäche seine Stärke. Nach innen zu gilt für Schlechthin jeden Lao Tses Lehre, dass das Weiche stärker sei als das Harte, und nicht Nietzsches Herrenmoral. Herrenmoral macht, im Gegenteil, nach innen zu blind. Goethe sagte:

Jeder Handelnde ist gewissenlos, nur der Betrachtende hat Gewissen.

Beim Handeln muss man, in der Tat, das meiste seines Wissens abblenden. Denn man kann ja nur einseitig und darum letztlich ungerecht handeln, während jedes Sehen ursprünglich den ganzen möglichen Gesichtskreis umfassend und vor allem unparteiisch ist. Eben wegen dieser Ur-Neutralität kontemplativer Einstellung ist jeder nicht ganz Törichte in seinem eigensten geheimen Inneren, wenn er überhaupt urteilt, sein eigener strengster Richter. Während man schaut und nichts als schaut, entscheidet man überhaupt nicht: man wird inne, wird ohne jede Abwehrmöglichkeit ergriffen von dem, was sich der eigenen Seele vor-stellt. Das beste, weil trotz der schon weit vorgeschrittenen Entchristlichung noch durch kein neues und besseres ersetzte Symbol für die normale Beziehung des Menschen zu seiner Innenwelt ist nicht der Adler, sondern das Kreuz. (Vgl. das Kapitel Leiden des Buchs vom persönlichen Leben.)

Noch jeder Eroberer großen Stils hat aus dem, was man als Minderwertigkeitsgefühl herabzuwürdigen pflegt, seine Leistung vollbracht. Und nicht zwar, um dieses Gefühl zu kompensieren, sondern weil eben die Stärke des Starken aus seiner Schwäche stammt. Demut nach innen zu öffnet die Schleusen der nach außen zu strömenden Kräfte. Dem ist völlig ausnahmslos so, ganz einerlei, welchem psychologischen Typus einer angehöre und welche äußere Haltung er aus praktischen Gründen einnehme — der Täter muss ja bei seinem Gebaren in hohem Grade mit dem Unverstand der Massen und unter allen Umständen mit den Normen des jeweiligen Zwischenreiches rechnen. Umgekehrt hat keine ausschließliche Betonung des Plus-Pols zu dauerhafter Weltgewaltigkeit geführt, sie führt vielmehr irgend einmal unabwendbar zu tatsächlicher, nicht nur zu vorgestellter Minderwertigkeit und darum Ohnmacht. Alle Beispiele, welche man gegen meine Behauptung anführen möchte, beweisen darum nicht, was sie beweisen sollen, weil die betreffenden Herrenvölker religiös und darum höheren Mächten gegenüber hingegeben waren; dies galt sogar von den Mongolen. Gleichsinnig ist noch jeder Wissende aus seinem sich selber eingestandenen Nicht-Wissen heraus zu diesem geworden, hat jeder Heilige sein Heil gerade aus seinem Sündbewusstsein heraus gefunden. Ausschließliche Betonung des Plus-Pols hat noch keinem gefrommt, und nicht nur in dem groben Verstande, dass Hochmut vor dem Fall kommt oder dass, wer sich selbst erhöht, erniedrigt werde — das ist nämlich gar nicht mit Sicherheit der Fall, meist büßen völlig unschuldige Urenkel für die Hybris ihrer gewalttätigen Vorfahren, überdies aber braucht die vorausgesetzte Regel, wo befolgt, ihren Seinsgrund nur in der Missgunst und Kleinlichkeit anderer zu haben. (Die Psychologie der Missgunst hat Kierkegaard am tiefsten erfasst. Er schreibt:

Missgunst ist versteckte Bewunderung. Ein Bewunderer, der fühlt, dass er durch Hingabe nicht glücklich werden kann, greift zur Missgunst gegen das, was er bewundert. Bewunderung ist glückliche Selbsthingabe, Missgunst unglückliche Selbstbehauptung.)

Ausschließliche Betonung des Plus-Pols hat noch keinem gefrommt, weil eben, wie gesagt, aus der Schwäche die Stärke des Starken fließt. Sie ist deren weicher Mutterschoß oder deren zarter Keim. Hieraus nun scheint mir dies zu folgen: Es ist verfehlt, überhaupt einer Integration der Art zuzustreben, in welcher sich die Polarität Demut — Stolz (und was dieser auf anderen Ebenen entspricht) erledigte, denn gerade sie ist normal. Demut vor dem, wofür bisher die Gottvorstellung stand, und Stolz den Menschen gegenüber ist die richtige Einstellung. Wer sich vor Menschen demütigt, wird damit niedrig schlechthin; Rittergesinnung steht absolut höher als jeder wie immer verstandene Proletkult. Alle Menschenwürde beginnt mit Selbstachtung. Wer sich selbst nicht achtet, kann unmöglich andere achten, gleichwie der, welcher sich selber gar nicht liebt — und deren gibt es viele —, eben darum zur Nächstenliebe unfähig ist. Dem antiken Menschen war Selbstlob nicht allein erlaubt, er galt, wo er auf Verdienste zurückblicken konnte, gewissermaßen als dazu verpflichtet, denn jeden Augenblick hatte er seiner Würde eingedenk zu sein — während es ob der gleichen Würde des Großen und Verdienten als zu-nahe-Treten aufgefasst wurde, wenn ihn andere lobten. Eben daher die unvergleichliche ethische Schönheit des antiken Menschen. Seit dem Siege des Christentums gilt Eigenlob als stinkend, und je mehr diese Gesinnung sich festigte, je mehr der andere sagen durfte, desto moralisch-häßlicher wurde die christliche Menschheit. Sie wurde in dieser Hinsicht im Grenzfall zu einer Neidhammelherde, in welcher jeder Hammel sich für berechtigt hielt, durch freies Geblöke des Menschen Rede zu überschreien. Hier hat die entartete christliche Überlieferung unabsehbares Unheil angerichtet, welchem man dann logischerweise mit ebenso falsch verstandenem Herrentumskult entgegenzuwirken versuchte — selbstredend ohne den gewünschten Erfolg, da die Gleichung falsch angesetzt war. Kein Mensch hat so viel von Vornehmheit geredet wie Nietzsche, und den von ihm beeinflussten Geschlechtern fehlt gerade Vornehmheit am meisten. Denn Vornehmheit ist die Synthese von höchster Selbstachtung, deren Primärausdrücke Unbedingtheits- und Einzigkeitsgefühl sind, mit gleich großer Generosität gegen andere wie gegen sich selbst, woraus sich der Selbstachtung proportionale Achtung anderer, Verpflichtetheit gegenüber dem Schwächeren, der Imperativ bewiesener Seelengröße und Demut vor dem höheren Wert ergeben. Auch die unter den Teilhabern sonst positiv zu beurteilender Bewegungen, die ein wieder-lebendig-Werden urchristlicher Gesinnung anstreben und brüderliches Verhalten nur auf der Ebene der Selbsterniedrigung für möglich halten, befinden sich in einem verhängnisvollen Irrtum: genau die gleiche Brüderlichkeit und Offenheit ist unter Rittern möglich. Nur geht sie im letzteren Falle mit Selbstachtung und Höflichkeit zupaar. Echte Demut hat nichts mit Verleugnen von Qualitätsunterschieden und schon gar nichts mit Bevorzugung niederer Qualität zu tun, wie denn die Gleichheit vor Gott in den großen Zeiten des Christentums niemals so verstanden wurde, als seien darum auch alle Menschen voreinander gleich, und gleichwertig, sofern sie nur nett und freundlich sind.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der Zwiespalt der Seele
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME