Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Das Wunder
Kriterium für Wahrheit
Für den erlebenden Einzelnen gibt es nur ein Kriterium für Wahrheit: das unmittelbare, subjektiv jeden Zweifel ausschließende Einleuchten. Aber auch objektiv, im Sinne des für-alle-Geltens gibt es kein anderes Kriterium: der vollständigste Beweis bleibt unüberzeugend und ist insofern nichtig, wenn er nicht einleuchtet. Wie Vieles dessen nun, was einer Zeit auf Grund unumstößlich scheinender Beweise für über jeden Zweifel erhaben erwiesen galt, hat sich später als so nicht vorhanden oder als falsch gedeutet herausgestellt! Es gibt eben nicht nur kein voraussetzungsloses Forschen, sondern auch kein voraussetzungsloses Verstehen. Und nur wenn die Voraussetzungen vollkommen wirklichkeitsgemäß sind, beweist das Einleuchten der Ergebnisse objektive Wahrheit. Sämtliche wissenschaftlichen Theorien gehen nun von der Voraussetzung aus, dass alles den Gesetzen des Verstandes gemäß Festgestellte wirklich und wahr ist, und weiter, dass solches ausschließlich vom wissenschaftlich Festgestellten gilt. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn die Wissenschaft sich ihrer Grenzen bewusst wäre. Langsam wird sie es auch mehr und mehr, wenigstens sehen ihre führenden Geister immer klarer. Die Mehrheit der weißen Menschen aber will heute keinerlei Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis anerkennen, und zwar versteht sie unter alleinseligmachender Wissenschaft einen Bau von ihr plausibel scheinenden Theorien, welche schlechthin alles erklären. Diese Auffassung aber hat, psychologisch unabwendbar, zur Folge, dass jener Mehrheit jede sich wissenschaftlich gebärdende Erklärung einleuchtet. Und damit ist für sie, gemäß dem ersten Satze dieses Kapitels, des Wissens letzte Instanz erreicht.
Was nun an sogenannter wissenschaftlicher Erklärung eingeleuchtet hat und weiter einleuchtet, kann es an Widersinn mit dem tollsten Aberglauben aufnehmen. Man gedenke (um von der generatio aequivoca früherer Zeiten abzusehen, gemäß welcher Ungeziefer spontan aus dem Schmutz entstände) nur der Deszendenztheorie: ist die Schöpfung wirklich so zustandegekommen, wie es Darwin und vor allem Haeckel behaupten, dann stellt sie ein noch sehr viel größeres Wunder dar als das, welches der biblische Schöpfungsmythos behauptet. Unter allen Umständen ist die wissenschaftliche
Erklärung noch sehr viel unverständlicher. Während nämlich der Mensch in Analogie seiner Einfälle und materialisierten Geistesschöpfungen und der für ihn bestehenden Möglichkeit, durch das Wort Tatsachen zu schaffen, das Werk des Schöpfergottes eigentlich sehr gut verstehen kann — es fragt sich allein, ob es Ihn im vorausgesetzten Sinne gegeben hat oder nicht — ist schlechthin unverständlich, wie sich ein Reptil durch Anpassung und natürliche Zuchtwahl zum Säugetier und schließlich zum geistbestimmten Menschen verwandelt haben soll. Gleiches gilt nun von schlechthin jeder Welterklärung auf sogenannter wissenschaftlicher Grundlage. Sie alle, auch die objektiv wahrscheinlichsten unter ihnen, sind schlechthin und vollkommen unverständlich, sie alle dienen überhaupt nicht der lebendigen Einsicht. Nichtsdestoweniger leuchten sie Millionen ein, weil diesen Millionen die verstandesgemäße Erklärung überhaupt
im gleichen psychologischen Verstande genügt, wie vormals die von der Kirche als wahr garantierte religiöse Offenbarung. Weiter fragen sie nicht und wollen sie nicht fragen; drängt man sie, so werden sie ernstlich böse. So sehr liegen heute die unbewussten und damit jeder möglichen Diskussion entzogenen Voraussetzungen der allermeisten denkenden Menschen im Reich der Künstlichkeit.
Grundsätzlich ist nun überhaupt keine wissenschaftliche Erklärung möglich, wo immer und so oft ein neues Prinzip in den Verlauf einer zeitlichen Entwickelungsreihe eingreift oder wenn plötzlich neue, vorher nicht vorhandene oder vorher unwirksame Voraussetzungen das Weiter-Geschehen bestimmen; d. h. wo immer ein Unstetigkeitsmoment in einem sonst noch so lockeren funktionellen Zusammenhang nachzuweisen ist. Greift z. B. auf einmal Leben
in das unbelebte, oder Geist
in das vitale Geschehen ein, oder befruchtet ein neuer unvoraussehbarer Einfall das vorherbestehende Gedankengefüge, dann ist es mit der stetigen Entwicklung aus, die allein Wissenschaft, deren Domäne das Allgemeine ist, erklären kann. Nimmt sich ein Einsichtsfähiger nun die Mühe, das Gegebene und Geschehene vorurteilslos zu betrachten, dann entdeckt er zu seiner Überraschung, dass die Unterscheidung zwischen Bekanntem und Unbekanntem, welche die Zeiten vornahmen, welche die wissenschaftliche Aufklärung für immer überwunden zu haben glaubte, vom Standpunkt des Verstehens gegenständlicher ist, als die im letzten Jahrhundert unter Gebildeten übliche: alle vorwissenschaftlichen Zeiten unterschieden unwillkürlich — und mit ihnen tuen es heute noch alle naiven Menschen, welche vom inneren Erleben und nicht von der Verstandesansicht her urteilen — im gleichen psychologischen Sinne, wie wir zwischen wissenschaftlich Erwiesenem und nicht Vorhandenem oder Zweifelhaftem unterscheiden, zwischen dem Selbstverständlichen und dem Wunder. Was immer auf Grund wiederholter Erfahrung als wirklich oder gültig feststand, verstand sich für diese Zeiten von selbst. Alles übrige aber war ein Wunder. Diese Auffassung hatte nämlich den ungeheueren Vorzug, dass sie allem Ungewohnten gegenüber Staunen weckte, des Menschen bestes Teil
(Goethe), während der sogenannte wissenschaftliche Beweis das Staunen und damit die Bedeutsamkeit für den inneren Menschen tötet. Die Kategorie des Selbstverständlichen hat freilich keine entsprechenden Vorzüge. Aber sie bewahrt wenigstens vor falscher Problemstellung. Probleme haben nämlich dann allein Sinn, wenn sie erstens vom Intellekt her gestellt werden oder stellbar, und wenn sie zweitens grundsätzlich lösbar sind: trägt man Problematik in das einen Berührende hinein, wo obige Vorbedingungen nicht erfüllt sind, dann findet man keinesfalls eine befriedigende Lösung und kommt überdies um seinen möglichen Erlebnis-Gewinn. Denn der Problematiker stellt sich außerhalb des Geschehens und betrachtet es von außen her, so dass nichts ihn innerlich ergreift, während umgekehrt das völlig Unverständliche den, der sich ihm erlebnismäßig öffnet, tief ergreifen kann.