Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Das Wunder
Ehrfurchtslosigkeit
Wenden wir uns von hier aus ohne Übergang noch einmal den sogenannten wissenschaftlichen Erklärungen zu: Wissenschaft ist so vollkommen ehrfurchtslos, dass jede ihrer Erklärungen unter anderem eine glatte Unverschämtheit bedeutet. Jede entspricht psychologisch dem Geist des nichts-als
, sonach dem Gegen-Geist der Ehrfurcht. Darum wollen auch nur Ehrfurchtsunfähige auf alle, auch auf die dümmsten Fragen eine klare Antwort haben. Solche seien wieder einmal auf Goethe verwiesen, welcher sein höchstes Glück in einem Zustande vorstellte, in welchem alles Erforschliche erforscht ist und das Unerforschliche ruhig verehrt werden kann. Man gedenke ferner dessen, was am Schluss des Buchs vom persönlichen Leben
darüber steht, wie wenig den Menschen wirklich daran liegt, zu wissen, was nach dem Tode sein werde und wie beim Großen Übergange vielmehr alles auf die Bereitschaft zur Überraschung ankommt. Wenn die Ehrfurchtslosigkeit des wissenschaftlichen Zeitalters die Menschen wenigstens wissender gemacht hätte! Aber das Gegenteil dessen ist leider wahr, allzu abschließend hat es die Erfahrung der letzten Jahrzehnte erwiesen. Ihre Ehrfurchtslosigkeit hat die Menschen vor allem werteblind gemacht. Kein Höheres kann sich als solches offenbaren, wenn ihm nicht mit Ehrfurcht begegnet wird. Der Blindheit und Stumpfheit gegenüber ist das Wahre und Gute machtlos. Sogar Gott vermag nichts, wenn Er nicht bemerkt wird, für den Augenlosen scheint die Sonne umsonst. Darum ist es millionenmal wichtiger, alle Menschen Ehrfurcht zu lehren, als sie an allem Wissen teilhaben zu lassen. Nur dank und mittels jener Tugend kann das Niedere an Höherem teilhaben und ihm entgegenwachsen. Was immer aber in Staunen und Ehrfurcht aufgenommen wird, wirkt auf Seele und Geist als Wunder.
Und nun gedenke man des oberflächlichsten Aspektes des gleichen Verhältnisses — der aber nur im gleichen Sinn ein Oberflächliches ist, wie beim Menschenleib die Haut, in Wahrheit eins der wichtigsten und differenziertesten Organe. Wie reich ist die Welt jedes, für welchen es viel Wunder und Wunderbares gibt, gegenüber der des Nüchternen! Ich habe schon den ehrlich Abergläubischen zeitlebens beneidet, welchem es viel bedeutet, ob ein Vogel von rechts her fliegt, oder ob etwas am Freitag unternommen wird; insonderheit habe ich zeitlebens den beneidet, dem ein Gewebe ortseigentümlicher Aberglauben all das jedem Menschen beschiedene Banale und Triviale, aus dem sein Leben, empirisch geurteilt, bestand, zu einem Hochbedeutsamen transfigurierte. Um wieviel reicher ist das Leben dessen, der durch das alltäglich-Empirische hindurch echt Transzendentes erlebt! Schon das zaristische Russland, in dessen Atmosphäre ich aufgewachsen bin, war in seiner Alltäglichkeit entsetzlich öde. Doch wie licht erschien gerade auf dem Hintergrunde dieser Öde jeder auf einen Heiligen bezogene Feiertag. Aus tiefstem Wortgewissen heraus hieß der gläubige Russe jener versunkenen Welt jeden Feiertag licht (swetly prasdnik): ein inneres Leuchten transfigurierte aus dem Glauben an eine andere Welt heraus, welche in diese hineinreichen konnte, die trostlose Gegebenheit. Gleichsinnig steigernd und belebend, ja beseligend, hat jedes am Wunder orientierte Leben gewirkt, zumal wenn es in einer schönen Ordnung kultischer Observanz materialisiert war. Der Sinn dessen aber ist der folgende: hier handelt es sich ganz und garnicht um diese oder jene ungewohnte, das Selbstverständliche und Alltägliche durchbrechende Tatsache — sogar dann nicht, wenn etwa Jehovah dem Moses im feurigen Busch erschien; sondern darum, dass sich in dieser Welt und durch diese Welt hindurch eine andere manifestiert. Grundsätzlich handelt es sich um den Höchstausdruck dessen, was ich als Grundeinsicht meiner Philosophie der Sinneserfassung wieder und wieder, in immer neuen Abwandlungen und auf immer Neues hin also formuliert habe, dass sich mittels der gleichgebliebenen fünfundzwanzig Buchstaben des Welt-Alphabets beliebiger neuer Sinn ausdrücken lässt. Die sakrale Welt, welche der Gläubige als Hintergrund der profanen erlebt, das Wunderbare, für welches das Natürliche nur das in Bereitschaft harrende Ausdrucksmittel ist, existiert für den, der es zu erleben fähig ist, wirklich. Und zwar meine ich dieses wirklich
im absoluten Verstand. Dem Worte Richtigkeit
— wir wiesen darauf schon hin — entspricht in der Welt des Geistes nichts Wichtiges.
Wieder und wieder sind bestimmte religiöse Vorstellungen als der nachweisbaren natürlichen Wirklichkeit widerstreitend widerlegt worden, und doch hat der, welcher an sie glaubte, durch dieses Unrichtige
hindurch mehr Wahres und Wesentliches erlebt, als jeder, welchem die Richtigkeit letzte Instanz ist. Denn inbezug auf den Geist, dessen intellektuell fassbares Wesen Sinn oder Bedeutung ist, ist das äußerlich Fassbare unter keinen Umständen mehr als Sinnbild; darum kann ein empirisch Falsches bei entsprechender Zuständlichkeit genau so gut zum Sinnbild wahrhaftig erlebter Wahrheit dienen, wie empirisch Richtiges, vorausgesetzt, dass der Sinn durch das Bild hindurch wahrgenommen wird. Man gedenke nur der Götterbilder und Ikonen aller Zeiten, insonderheit der archaisch einfachen und der ungeheuerlich komplexen. Hier setzt denn ein anderes Gesetz ein, nämlich das Korollar des allgemeingültigen Korrelationsgesetzes von Sinn und Ausdruck, dass neuer Sinn von sich aus neuen Ausdruck schafft. Eben dieser neue Ausdruck für neuen Sinn ist das, was man im Gegensatz zum Natürlichen Wunder heißt. An den empirischen Elementen des Geschehens hat kein Wunder je etwas geändert; sogar im Falle katastrophalst wirkender Theophanie müsste Wissenschaft grundsätzlich in der Lage sein, den Weg des Zustandekommens exakt zu beschreiben und in gesetzmäßige Zusammenhänge einzuordnen. Aber nicht auf den Weg kommt es an, sondern den Sinn, welcher den Einbruch einer anderen Welt bedeutet. Und so ist das Wesentliche am Kultus, am Feiertage, Feste und so fort nicht die jeweilige Praxis, welche Ausdruck reinen Aberglaubens oder reiner Fiktion sein mag, sondern die von derjenigen des Alltags verschiedene Wirklichkeit, welche vom richtig Eingestellten durch jene hindurch erlebt wird. Wer auch nur das Kirchenjahr gläubig so erlebt, wie es von denen, welche diese Formen schufen, gemeint war, erlebt tatsächlich anderes und zwar real anderes als der, dem dieser Turnus nichts bedeutet. Hier nun setzt die Möglichkeit des sonderlichen, gegen alles Natürliche scharf abgrenzbaren Wunders ein.
Neuer Sinn schafft automatisch neue Tatsachen, wahrscheinlich auf ähnliche Art, wie das Unbewusste auf unbekannten Wegen automatisch ausführt, was ein auf eine bestimmte klar erfasste Vorstellung konzentrierter Geist intendierte. Hat nun ein Geist seinen Ort in einem Reich, von welchem her es keine eingefahrene Bahn der Vermittelung zum Üblichen gibt, dann kann er neue, sonst unbekannte Kräfte schaffen oder ins Spiel bringen. Daran ist an sich nichts aus dem Rahmen unseres Gesamtwissens Fallendes: nicht anders nutzt das Leben überhaupt die allbekannten Naturkräfte im Rahmen sonst nicht vorhandener Zusammenhänge, zu außerhalb des Lebensprozesses nicht verwirklichbaren Zielen: wie denn die Elementarkräfte sofort in ihre gewohnte Routine zurückfallen, nachdem das Leben einen Körper verließ. Und ebensowenig ist etwas grundsätzlich Außerordentliches daran, dass ein Heiliger, von allem Wundertätertum ganz abgesehen, ganz anders wirkt, als ein Normalmensch. Letztentscheidend für die selbständige (nicht im Rahmen soziologischer Apparatur vorgesehene oder von ihr kanalisierte) Wirkung jedes Menschen ist sein Niveau, d. h. die besondere Ebene des Geists, auf welcher er zuhause ist. Ist diese anderen real überlegen, dann wirkt sie sich auch selbstverständlich aus, so viele Widerstände zunächst zu überwinden seien. Im Höchstfall braucht der hohe Geist garnichts zu tun, er braucht nicht einmal zu wollen — und es geschieht alles so, wie er es meint. Solches unwillkürliches Wirken — das chinesische Wu-Wei — scheint überhaupt die sicherste Art zu sein, wie das Hohe sich innerhalb des Niederen manifestiert. Viele der Allergrößten sind absichtlich unbekannt geblieben, Selbst-Erhöhung stört nachweislich die Wirkung: jedes Hinabsteigen in die Arena, in welcher die Niederen kämpfen, macht eben den Höheren diesen insofern gleich, und da sein Anders- und Mehr-Sein dennoch gespürt wird, so weckt es Gegenkräfte, die sich auf niederer Ebene leicht als übermächtig erweisen.
Wirklich erkannt nun wird ein hoher Geist von dem allein, der sich ihm vorbehaltlos öffnet. Durch Wunderwirken als solches erweist keiner seine höhere Qualität, denn jedes Wunder, isoliert betrachtet, ist ein Trick. Darum haben sich alle Besitzer übernormaler Kräfte gesträubt, diese auf Kommando auszuwirken, oder sich auch nur Experimentatoren auszuliefern; denn das eigentliche am Wunder ist ja nicht die außergewöhnliche Tatsache, deren Zustandekommen allemal irgendwie natürlich zu erklären ist, sondern der Geist, welcher es ermöglichte, weil es seinem sonderlichen Wesen entsprach. Diesem Geiste aber muss man sich öffnen, wenn man an ihm teilhaben will. Man muss sich als Staunender und Ehrfürchtiger zu ihm verhalten. Dies ist so sehr der Fall, dass Seinswerte überhaupt nur in (im echten Sinne) aristokratischen Lebensordnungen je eine Rolle haben spielen können: nur wo die Aufmerksamkeit von vornherein auf das Sein
an sich, unabhängig von aller Leistung, gelenkt ist, wird Niveau
bemerkt und kann es darum seine sonderliche Tugend auswirken. Und seinen ganzen Möglichkeiten entsprechend auswirken kann es sich nur da, wo ihm Ehrerbietung entgegenkommt. Das Gesagte gilt nun desto mehr, um je höheres Niveau es sich handelt. Mit Recht forderte jeder echte Religionsstifter Glauben, bevor dieser sich als berechtigt erwiesen hatte; darum fordert sogar Gott Glauben. Ganz selten geschieht es, dass Geist unabhängig von der Bereitschaft anderer, ihn zu empfangen, Wunder wirken kann, und in diesem Falle spricht viel dafür, dass eine höhere, mit dem Ich des Wundertäters nicht identische geistige Macht sich eines besonders dafür veranlagten psychophysischen Organismus als eines Werkzeugs bedient. Das scheint in unseren Tagen der Fall der erstaunlichen Therese von Konnersreuth zu sein. Ich bitte meine Leser, an dieser Stelle das früher über ihren Fall Ausgeführte noch einmal zu lesen, denn nun werden sie es mit tieferem Verständnis tun. Bei Therese lenkt augenscheinlich ein ihrer normalen Psyche nicht eingebildeter Geist deren Prozesse in ungewohnte Bahnen um. Auch sonst verfügt sie über den Meisten nicht gegebene Fähigkeiten. Nur jedoch in besonderen Zuständen der Entrückung. Da aber schafft ihr persönlicher Glaube diesen gemäße Tatbestände, oder aber der Geist, der sie besitzt, wirkt sich entsprechend ihrem Glauben aus. Eben darum bestätigt alles, was von Therese von Konnersreuth ausgeht, die Wahrheit der Lehre der katholischen Kirche. Da Therese nun sozusagen solipsistisch an dem teilhat, was durch sie wirkt, ist sie vom Glauben anderer in unerhörter Weise unabhängig. Desto stärker aber glaubt sie selber. Sie ist ganz Glaube, ganz Staunen, ganz Ehrfurcht. So bestätigt gerade ihr in unserer Zeit einzigartiger Fall die allgemeine Wahrheit, der wir in diesem Kapitel Ausdruck zu verleihen suchen.