Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Mein Glaube

Wiedergeburt im Reich der Gnade

Mein Leben muss die Anderen seltsam anmuten. Viele meinen, ich hätte persönlich nichts von ihm. Doch diese irren. Mein Leben ist im Ganzen wesentlich schön. Vorhin schrieb ich vom Schreckhaften, das es für mich hätte auf Grund meines besonderen Gleichzeitigkeits­bewusstseins: dieselbe Gabe, das zeitlich Verfließende in Form des Gleichzeitigen zu sehen, kann höchstes Glück vermitteln. Ja, sie ist es, die mich wieder und immer wieder, wenn meine Empfindungen gar zu schmerzhaft werden, mit der Tragödie dieses Daseins versöhnt. Denn gerade sie macht mir wieder und immer wieder das sinnvolle Walten der kosmischen Fügung deutlich. Wie bemitleide ich da das enge Blickfeld derer, denen nur das beweisbare Heutige Gegenwart ist! Die Allermeisten leben ja in den Tag; in einen gar kurzen Tag hinein. Und keiner dieser Tage trägt seinen vollen Sinn in sich. So tun sie recht, von Stunde zu Stunde zu vergessen oder das Wirklichkeitserleben in irgendeiner konventionellen Form zum Wahn zu wandeln. Wem hingegen alles Gewesene als Gegenwart gegenwärtig ist, der sieht, je mehr Zeit er durchmessen, desto klarer, dass alles Zusammenstehende sowohl als alles sich Folgende einer höchst sinnvollen Melodieeinheit angehört, höchst sinnvoll, weil jeder folgende Satz, ja Takt das Verklungene sinnreicher macht. Diese Melodie ist kein heiteres Spiel. Sie ist dafür ein großartiges Spiel. Und das ist mehr.

Vollends großartigen Charakter gewinnt das Leben dem, der in der Gegenwart nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft mitlebt. Das ist natürlich möglich. Wo der Sinneszusammenhang des Lebens ein Zeitloses ist, der sich nur in der Zeitfolge manifestiert, gleichwie die Sonate an sich ein Zeitloses ist, obschon sie in der Zeit allein erklingt, da kann, wessen Bewusstsein zum eigenen Sinne vordrang, allerdings auch das Künftige vorauserleben. Nicht zwar, was kommen, sondern was er selber wollen wird. Es gibt nichts schicksalsmäßig Äußeres, das keine freie Innenseite hätte. Ihm nun ist Bejahung des Augenblicks eben damit auch Bejahung der Zukunft. Muss diese schwer werden, weil der Sinn bestimmter Lebensmelodie dies also will, so will er eben diese. So hat jeder Augenblick einen Vergangenheits- und Zukunftshintergrund zugleich. Beide Hintergründe sind unermeßlich. Wer diese sieht, dem kann keine Augenblicksbanalität das Leben seines Sinns berauben, und in dieser begnadeten Lage befinde ich mich.

Dies schreibe ich zu Weihnachten. Nicht zufällig, möchte ich denken, schließe ich eine wichtigste Etappe meines Lebens und Schaffens gerade heute ab. Zu Weihnachten wird mir der Sinn meines Erdendaseins jedesmal besonders deutlich. Denn die Erinnerung an die Geburt des Welterlösers ist mir das Sinnbild jener eigenen Wiedergeburt, die ich immer erneut, immer stärker erlebe. Kein Gestern, obschon verstorben, geht verloren. Doch durch das neugeborene Heute kann es wieder und wieder neuen Sinn erhalten, der es transfiguriert. Und ist dieser Sinn ein steigernder und aufwärtsweisender, so wird das Gestern recht eigentlich wiedergeboren aus dem Geist und eben damit erlöst. Und diese Wiedergeburt ist wirklich, obschon nur der sie erlebt, der seine Freiheit rastlos betätigte, der nicht zu viele persönliche Entscheidungen unterließ, der alles Äußerliche auf sein Inneres persönlich zurückbezog, recht eigentlich eine Wiedergeburt im Reich der Gnade. Denn das ist eben das Reich jener größeren Melodie, von der das Einzelleben nur einen Takt bedeutet, und die es umfängt und trägt.

Kinder sind gewiss Schrittmacher des Todes. Und doch: seitdem ich weiß, dass ich meinen Lebensmittag überschritt, dass ich am Aufstieg im Natur-Sinn nicht mehr teilhabe, fühle ich mein Leben täglich sinnvoller, erfüllter werden. Was habe ich nicht alles schon erlebt! Feudales Mittelalter, abgeklärteste Geister des 18. Jahrhunderts. Geschlechter sah ich auf dem ganzen Erdenrund, wie sie nicht wiederkehren werden. Ich erlebte das Ende einer überlebten Zeit im Osten wie im Westen. Ich sah die Nation, der ich im engeren Sinne angehöre, sterben. Neue Völker sah ich zugleich geboren werden. Unermeßlich viele Tode gingen an mir vorüber. Viele Tode durchstarb ich selbst. Und alles, alles Vergehen erwies sich dann jedennoch als Tor zur Wiedergeburt.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Mein Glaube
© 1998- Schule des Rades
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