Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Die geistige Menschheitseinheit

Erneuerung des Christentums

Bedeutet nun diese Bestätigung der Ergebnisse meines Eingangsvortrags das letzte Fazit, das aus der Tagungswoche gezogen werden kann? In bezug auf die konkrete Lebensgestaltung allerdings. Hier gibt es kein mögliches Jenseits der Einseitigkeit: wie jeder Mensch an seinen physischen-Körper ein für allemal gebunden ist, so kann er auch seine geistig-seelischen Grenzen in Form konkreter Darstellung nicht überschreiten. Der denkbar reichstveranlagte Mensch würde auf der Ebene der Erscheinung dennoch einseitig wirken, denn die Menschheit schlösse auch er in seiner Person nicht ein. Anders steht es mit der Sphäre der Erkenntnis. In der Erfassung des Sinns der Einseitigkeit wird diese nicht allein überwunden und zum Sinnbild der Allseitigkeit verwandelt, wie dies die Tagung 1922 lehrte — sie geht in ein neues, umfassenderes Positives ein. Und in dieser Hinsicht hat die diesjährige Tagung uns genau von dem Punkte ab, welcher das letzte Wort der vorhergehenden bezeichnete, einen weiten Schritt vorwärts geführt. Deren Instrumentierung nach Persönlichkeiten, Reihenfolge und Rhythmus ließ — die Erfahrung beweist es — in denen unter Ihnen, welche die entsprechende musikalisch-geistige Begabung hatten und das Ganze unbehindert auf sich wirken ließen, die höhere Einheit unmittelbar erleben, von der alle Redner nur Teilausdrücke waren und sein konnten. Und so erwies es sich, dass das große Ganze, das Jenseits aller individuellen Beschränkung, dem Geist als solches fassbar ist.

Aber muss der Geist das, was er erleben kann, nicht auch gestalten können? Die Analogien der Geschichte legen eine bejahende Antwort auf diese Frage nahe. Wenn das Ganze an sich überhaupt erfahrbar ist, dann muss es auch als Weltanschauung darzustellen sein. Dann muss es eine positive Weltanschauung vom Standpunkt des an sich erfassten Ganzen, eine im wahren Wortsinn katholische Weltanschauung geben können. Ich glaube, Sie werden mir alle zugeben, dass ich recht formuliere, wenn ich eben diese Forderung als das eigentliche Ergebnis der verflossenen Woche hinstelle. Gibt es nun vielleicht schon eine allumfassende, alle Einseitigkeiten in sich vereinende Weltanschauung? Einer unserer Redner erhob in der Tat den Anspruch, sie zu vertreten: der römische Katholik. Dementsprechend hatte er seinen Vortrag nicht Der katholische Mensch, wie ursprünglich in Aussicht genommen war, sondern Katholizismus als Aufgabe betitelt … Eine im wahren Wortsinn katholische Weltanschauung muss es geben können. Das ist gewiss. Sollte die römisch-katholische Weltanschauung in ihrem heutigen historisch bestimmten Verstand das Positive sein, das, über allen möglichen Einseitigkeiten thronend, diese innerlich bedingt? Sollte sie die Weltanschauung vom Standpunkt der Menschheit sein? — Dass sie, und sie allein, in der Idee, die Religion des ganzen christlichen Kosmos bedeutet, darüber besteht kein Zweifel, denn sie allein schließt grundsätzlich alles nur Mögliche ein.

Radikale Erscheinungen wie Gogarten vermöchte sie grundsätzlich ohne weiteres in ihrem Zusammenhange sinnvoll einzustellen, denn dieser lehrt nichts, was nicht auch ihr Lehrkörper enthielte, nur lehrt er einen Teil dessen allein, unter Verwerfung alles übrigen — woraus allein schon folgt, dass sein Protestantismus die ganze Wahrheit des Katholizismus nie in sich wiedergebären könnte. Auch den Vorstellungskreis der griechisch-orthodoxen Kirche vermöchte sie grundsätzlich in sich aufzunehmen, während das Umgekehrte nicht gilt, denn auch jene bekennt sich zu nichts, was nicht auch sie enthielte, nur bekennt sie sich zu einem Teil allein der katholischen Wahrheit. Besonders auf einem beruht der Rechtsanspruch der römischen Kirche, die Kirche schlechthin zu sein: dass sie allein die Welt in die Heilsordnung mit einschließt und sie also heiligt, wo beide anderen großen Konfessionen sie preisgegeben haben, wie solches nicht allein abstrakte Lehre, sondern vor allem die Geschichte unzweideutig beweist, welche die rein protestantische Welt in der vollendeten Mechanisierung, das ist die Besiegung alles Lebendigen durch das Tote, und die orthodoxe in der bolschewistischen Zerstörung, die nur im rechtgläubigen Russland objektiv möglich war, ad absurdum geführt hat. Heute streben allerdings die führenden Geister aller Konfessionen einem allumfassenden Christentum zu; heute fühlen alle, dass die historische Stunde der christlichen Ökumene schlägt, und es ist natürlich, dass jeder von seinem Sonderbekenntnis hofft, aus ihm werde diese hervorgehen. Aber wie soll die ihrem Wesen nach un-, ja antihistorische griechische Kirche eine neue historische Form hervorbringen? Denn um eine neue müsste es sich unter allen Umständen handeln, dagegen hilft keine Sophistik, wenn die heute geschiedenen Kirchen sich neu vereinen sollen. Der Geschichtsprozess ist unumkehrbar, die Zeitdauer, als Erinnerung aufgespeichert, ein unbedingt Wirkliches; deshalb muss das Morgen anders als jedes Gestern aussehen, gerade insofern es ein Gestern neu zum Leben erwecken soll.

Und nun der Protestantismus: eine Protestbewegung als solche schafft notwendig Verengerung. Wer den Protest zur Dauerhaltung erhebt, stellt im gleichen Verstand ein Sinnloses als Vorbild hin, wie es die Juden getan hätten, wäre Ahasver ihnen, nach Christi Auftreten, zum Ideal geworden; denn die großartige Gestalt des Ewigen Juden bedeutet nichts anderes als das Sinnbild der seit Christus vom christlichen Standpunkt sinnlos gewordenen jüdischen Bewegtheit, deren Ziel ja war, dem Messias den Weg zu bereiten. Gibt aber der Protestantismus seine Protesteinstellung auf — verliert er dann nicht erst recht seinen Sinn? Als rein evangelische und folglich überkonfessionelle Bewegung — denn die Evangelien sind nur das Textbuch der späteren Konfessionen, die Dogmen dieser als solche sind in jenen überhaupt nicht enthalten — gäbe er seine historisch gewordene Gestaltung preis. Vor allem aber kann die Bewegung, die er verkörpert, zum ökumenischen Christentum deshalb nicht führen, weil der Protestantismus nur als Bewegung überhaupt einen Sinn hat: er trägt rein dynamischen Charakter, bedeutet insofern eine Wiederverkörperung des alttestamentlichen Geists; wo er Statik darstellen will, wie in gewissen lutherischen Sekten, dort erweist er nur seine Beschränktheit, und aus solcher geht die künftige Ökumene keinesfalls hervor. Und wo sein Hauptcharakter darin besteht, dass er mit allem Fortschritt mitgeht, dort zersetzt er sich zwangsläufig als Kirche, d. h. er lebt immer weniger aus eigenem Recht. Darüber hinaus aber erscheint der Protestantismus nur als ganz bestimmte Bewegung sinnvoll, und diese hat ihr Ziel erreicht; das, wofür der Protestantismus seinerzeit gekämpft hat, Gewissens- und Geistesfreiheit, Selbstverantwortung und das Recht zu einem rein persönlichen Verhältnis zu Gott, ist heute allgemeines Menschheitsgut. Wer dies nicht weiß, nicht anerkennt, beweist eben damit, dass er historisch nicht in Betracht kommt.

Wenn eine Bewegung nun ihr Ziel erreicht hat, so ist sie am Ende. Hieraus, aus nichts anderem erklärt sich das Siechtum der meisten protestantischen Kirchen; der Protestantismus als bestimmte Konfession ist erledigt, weil er als Idee gesiegt hat. Die ganze fortschrittliche Menschheit ist, unabhängig von aller Konfession, insofern protestantisch geworden; ja, unabhängig von aller Religion. Ist die freie Wissenschaft das Kind der Reformation, so ist es ebenso die Technik, die soziale Fürsorge, der Sozialismus. Das Christliche am Protestantismus wird so immer mehr zum bloßen Akzidens. Die christliche Aufgabe dieser Stunde ist, in der Tat, eine sehr andere, als der Protestantismus sie erfüllen könnte, ja sie ist recht eigentlich antiprotestantisch; heute gilt es eine neue Heiligung der Welt. Den Protestantismus jedoch aus dieser Einsicht heraus nachträglich zu katholisieren, kann nicht gelingen, weil Konfessionen ein Lebendiges und folglich Ausschließliches — oder aber gar nichts sind. So kann aus universalistischer evangelischer Bewegung wohl eine neue Form religiöser Gemeinschaft, aber keine universelle Kirche im alten Sinn hervorgehen. In der Idee spricht demnach alles dafür, dass die katholische Kirche, sofern christliche Ausdrucksform überhaupt dafür in Frage kommt, die höhere Einheit darstellt, die als geistige Spiegelung der Menschheit alles Besondere an menschlicher Weltanschauung sowohl als Lebensgestaltung sich einzuordnen berufen sei.

Aber wenn man ihre heute noch herrschende Erscheinung betrachtet, dann muss man andererseits bekennen, dass sehr, sehr viel gegen ihre Berufung spricht. Noch hat die katholische Kirche die Protesthaltung, in welche sie ihrerseits durch die Reformation gedrängt wurde, nicht überwunden; heute ist sie insofern offiziell viel protestantischer als nur irgendeine, die auf Luthers und Calvins Reformen zurückgeht, denn sie protestiert blind weiter gegen Allzuvieles, was historisch, sei es als Erkenntnis, sei es als Erlebnis, unwiderruflich gesiegt hat; noch immer schließt sie sich viel zu sehr ab von den akuten Problemen dieser Zeit; ja sie vertritt vielfach das strikte Gegenteil der Idee eines Katholizismus, nämlich Konventikel-, ja Ghetto-Geist. Während der eigentliche Begründer des späteren Katholizismus, weil erste katholische Geist der Christenheit, der Apostel Paulus, in sieghafter Verpflichtetheit der erkannten Wahrheit gegenüber, vorzüglich zu den Heiden ging, weiß ich von bedeutenden modernen Katholiken, welche grundsätzlich ablehnen, vor Ungläubigen zu reden; während jener schrieb (1. Kor. 9, 19 ff.):

Da ich frei war von allen, habe ich mich zum Sklaven aller gemacht, damit ich die Mehrzahl gewönne, und ich ward den Juden ein Jude, auf dass ich die Juden gewönne, den Gesetzestreuen ward ich ein Gesetzestreuer, auf dass ich die Gesetzestreuen gewönne, den Gesetzesfreien ward ich ein Gesetzesfreier, auf dass ich die Gesetzesfreien gewönne —

welchen Satz übrigens die Schule der Weisheit als ihr eigenstes Motto annehmen könnte, denn er besagt nichts anderes, als dass es auf den Sinn allein ankommt und jeder Buchstabe vom tiefsten Sinn beseelt werden kann —, tut sich die heutige Kirche nur allzuviel zu gut auf ihre Starrheit. In geistiger Beziehung ist der Protestantismus heute viel ökumenischer als der Katholizismus und diesem insofern gerade vom katholischen Standpunkt weit voraus. Und eben insofern lebt in ihm auch mehr christliche Liebe, obgleich sonst der Eros des Protestantismus schwächste Seite ist. Und von hier aus begreift man auch, warum die heutige katholische Kirche der einseitig eroshaft eingestellten russischen Seele nicht allein unchristlich, sondern geradezu antichristlich vorkommt. Wohl ist jede Wahrheit ein mögliches Dogma, oder sie ist keine, weshalb der dogmatische Positivismus der katholischen Kirche grundsätzlich recht hat. Aber da es sich beim Glauben um ein Reich der reinen Freiheit handelt — man bedenke, dass Jesus nur den Schächer, der ihm persönlich entgegenkam, erlösen konnte —, so widerspricht der weltliche Gewaltgedanke, auf religiöses Gebiet verpflanzt, wie der Katholizismus dies so oft getan hat und noch weiter tut, dem eigentlichen Sinn des Glaubens. Nicht minder widerspricht diesem, aus den gleichen Gründen, der aus der Weltlichkeit abstrahierte Begriff der Autorität: hier hat der vielleicht bedeutendste moderne Vorkämpfer der russischen Orthodoxie, Pawel Florensky, unzweifelhaft recht, indem er lehrt:

Lebendige religiöse Erfahrung ist der einzige gesetzmäßige Weg der Dogmenerkenntnis.

Letztere Lehre hebt ja den Abstand zwischen Natur und Übernatur in keiner Weise auf, sie widerstreitet nicht dem geforderten Objektbewusstsein gegenüber dieser, an welcher der Mensch durch Gnade allein teilhaftig werde: sie bestimmt vielmehr richtig, wie man sich zur Gnade verhalten soll. Autoritätsglauben, im weltlichen Verstande, verschließt dagegen recht eigentlich den rein persönlichen Quell der Seele, durch den allein der Zugang zu Höherem möglich ist; er macht die bloße Fragestellung metaphysischer Wahrhaftigkeit psychologisch unmöglich. — Weiter widerspricht dem Wesen jeder echten Religiosität der Imitationsgedanke, der seit Thomas von Kempen und Ignatius von Loyola zum integrierenden Bestandteil katholischen Glaubenslebens gehört.

Hier hat wiederum die griechische Kirche recht, indem sie lehrt, Christus könne nur Sinnbild, niemals Vorbild sein — denn erstens handelt es sich hier um metaphysische (nicht empirische) Verhältnisse, deren Wirklichkeit ihren Ort im Reich des reinen Sinnes hat, zweitens kann und darf jeder nur sein eigenes Leben leben. Insofern bedeutet die Idee einer Imitatio Christi, gar die einer Imitatio Dei, nicht mehr und nicht weniger als eine Blasphemie. Es ist ein Ehrentitel der anatolischen Kirche, dass kein einziger von deren Heiligen stigmatisiert ward. Wenn es auch freilich für jeden Werdenden wahr ist, dass er scheinen muss, bis dass er wird, welche Wahrheit geistliche Übungen freilich rechtfertigt, so schadet doch Scheinen von dem Augenblicke an, wo es vom höheren Bewusstsein missverstanden wird. Denn auch auf diesem Gebiete schafft der Sinn den Tatbestand. Nun behauptet die moderne katholische Philosophie in Gestalt ihrer besten Vertreter allerdings, dies alles lehre die Kirche implizite auch; bei den hier beanstandeten Lehren, wie überhaupt bei allen historisch gewordenen Dogmen, handele es sich um sinnbildliche Darstellungen, die eben so gefasst sind, wie sie die Menschheit am meisten zu fördern geeignet scheinen, und werfen ihrerseits der anatolischen Weisheit vor, dass deren von Hause aus und grundsätzlich übergeschichtlich gefasste Lehre eben deshalb einen allzu geringen Einfluss auf diese Welt ausgeübt habe. Mit letzterem Vorwurf hat sie unstreitig recht. Was nun aber die katholische Rechtfertigung betrifft, so ist auf sie zu erwidern: der Wert jedes Sinnbildes bemisst sich eindeutig an seiner Evidenz. Sobald eines das an ewiger Wahrheit nicht mehr faktisch vermittelt, was es vermitteln soll, dann ist es abgestorben. Bei der modernen Wachheit des erkennenden Geistes stellt sich daher gerade vom pragmatischen Gesichtspunkt aus die Aufgabe, eine bessere Gleichung zwischen Sinn und Ausdruck herzustellen, als der Katholizismus solche in geistiger Hinsicht vielfach bisher vertritt. Symbole sind ja nichts an und für sich, sie sind nur Organe zur Aufnahme des Übersinnlichen. Und hier gelangen wir zu dem weiteren Einwand gegen den heutigen Katholizismus: seine Form ist allzusehr historisch.

Mereschkowski sagt über Goethe, dieser hätte nur deshalb durch die sublimierteste katholische Form allein ein Verhältnis zum Christentum finden können, weil er kein ursprüngliches religiöses Gefühl besaß; er bedurfte der Vermittlung durch alle nur möglichen Zwischeninstanzen des Geistes und der Seele. Damit ist wohl der Kern des Problems einerseits der Werbekraft des Katholizismus für jeden sublimierten Kulturmenschen, andererseits dessen, warum ursprünglichen Gemütern die russische Spiritualität am meisten sagt, erfasst. Diese äußert sich ganz unmittelbar; sie sieht in allen Vermittlungen nur Verführung (Prelesstj). Damit ist aber gleichzeitig erklärt, warum der Katholizismus sich heute wandeln muss, falls er seine mögliche Aufgabe erfüllen soll. Wir leben heute, auch auf geistlichem Gebiet, in einem Zeitalter der Erneuerung und folglich der Einschmelzung der historisch erstarrten Form. Schon auf Erden gilt kein Rechtstitel für die Ewigkeit. Auf geistlichem Gebiet kann positives Recht seinem Wesen nach kein letztes Wort bedeuten. Hier muss, im Gegenteil, jeden Augenblick neu erworben werden, was man besitzt. Selbstverständlich ist nicht jede historische Form erstarrt oder sinnwidrig geworden, aber ohne Zweifel muss heute, wo allgemein neuer Kontakt mit den letzten Tiefen der Seele gesucht wird, der Akzent vom Historischen grundsätzlich fort auf das Elementare, das sich in diesem äußert, verlegt werden. Dieses Problem löst die moderne liturgische Bewegung nicht, denn sie bewegt sich ihrerseits in zu sublimierten Regionen, um zu der elementaren Erneuerung zu führen, deren es heute bedarf.

Warum entwickelt der Islam wieder einmal unerhörte Werbekraft? Weil bei ihm aller Nachdruck auf dem undifferenziert Numinosen, dem religiösen Ur-Erleben liegt. Diese Erwägung sollte gerade die katholische Kirche wohl beherzigen; sie sollte im gleichen Zusammenhang von unseren Exerzitien lernen, wie das Historische zum Elementaren umgeboren werden kann: dies geschieht durch die Akzentlegung auf den Sinn, durch die vorangehende Erklärung, die gewordenen Formen bedeuteten genau nur soviel, als der ursprünglich Erlebende in sie hineinzulegen weiß, und die Anweisung zur Annahme der entsprechenden inneren Haltung. Denn gälte noch sehr eine überindividuelle Ordnung: insofern sie im Reich des Sinnes liegt, kann ihr Objektives nur durch das freie Subjekt verwirklicht werden. Und damit gelangen wir zum entscheidenden Einwand gegen die Zukunft der heute empirisch verwirklichten katholischen Kirche: sie legt den Akzent auf das Tatsächliche dessen, was sie vertritt. Damit ist nur der psychologisch fähig, durch sie hindurch das Göttliche zu realisieren, dessen Typus pathisch ist, und zwar pathisch im besonderem Verstand, dass er auf metaphysischem Gebiete glauben muss, um sich frei zu fühlen. Dieser Typus ist nun nicht allein nur ein bestimmter, beschränkter — es ist gewiss, dass er nie mehr historisch führen wird. Alle historische Zukunft gehört bis auf weiteres dem magischen Menschen, und in historischem Zusammenhang hat das historisch Gewisse dem gläubigen Christen offenbar als Wille der Vorsehung zu gelten1.

Ich kann und will mich hier auf keine erschöpfende Kritik der heutigen katholischen Kirche einlassen. Aber schon durch diese wenigen Schlaglichter dürfte Ihnen klar geworden sein, inwiefern sie heute das nicht ist, was sie zu sein beansprucht und der Idee nach sein könnte. Ohne Zweifel ist sie, der Idee nach, die eine allumfassende christliche Kirche, denn sie allein schließt grundsätzlich jede nur mögliche christliche Lebensäußerung ein; ohne Zweifel fällt die nächste historische Aufgabe des Christentums in der Idee ihr zu. Der griechisch-orthodoxen Kirche kann sie nicht zufallen, weil diese überhaupt keine historischen Aufgaben kennt. Dem Protestantismus kann sie deshalb nicht zufallen, weil dieser seine historische Aufgabe vollkommen erfüllt hat und gleiche Aufgaben sich in der Geschichte nicht zweimal stellen. Historisch fällig ist heute ohne Zweifel ein ausgesprochen antiprotestantisches Problem: sich über alle Teilgegensätzlichkeit innerlich zu erheben, womit eben die Protesthaltung, die nur innerhalb einer gegebenen Gegensätzlichkeit Sinn haben kann, sich von selbst erledigte, und überdies die durch den Protestantengeist entheiligte Welt aufs neu zu heiligen. Denn nichts anderes bedeutet, religiös formuliert, die Aufgabe, das gesamte Weltalphabet zum Ausdruck des Sinnes zu machen, oder einer sinnlos gewordenen Welt neuen Sinn zu geben. Aber — und hier komme ich endlich zur Formulierung positiver Forderungen — wenn heute wieder einmal die Stunde des Katholizismus schlägt, so kann dies lediglich insofern gelten, als er durch den Protestantismus hindurchgegangen ist. Wie ich’s schon ausführte: dessen Geist hat auf seiner Linie vollkommen gesiegt; eben dadurch ist seine historische Form erledigt. Deshalb ist die Zumutung mancher Katholiken, ihre Kirche werde die übrigen Konfessionen im historischen Diesseits des protestantischen Schismas heimholen, gar nicht diskutabel.

Ein neuer, allumfassender Katholizismus ist nur jenseits jenes, d. h. auf Grund der vollkommenen Assimilation der protestantischen Errungenschaften, zu begründen. Dies bedeutet in concreto, dass der Katholizismus seinerseits überkonfessionell und ökumenisch im Geiste werden, dass er den Ausdruck seiner Lehren überall dort modifizieren muss, wo er den Postulaten der Geistesfreiheit, der Selbstverantwortung und des persönlichen Verhältnisses zu Gott, welche die höhere moderne Bewusstseinsstufe definieren, widerspricht. Also gerade der Katholizismus hat viel, besonders viel zuzulernen, wenn er die heutige Krisis siegreich überstehen will. Ja, hier scheue ich vor einer extremen Behauptung nicht zurück: versteht er es nicht, sich entsprechend den Erfordernissen der Weltenstunde zu wandeln (wie er es vor der Reformation, die ihn in die Defensive drängte, mehrfach verstanden hat), dann wird er, als im Großen bedeutsame historische Gestalt, in wenigen Generationen verstorben sein und nur als Sekte weiterexistieren, in der sich der statisch gesinnte Teil der Christen sammelt. Dann wird die Erneuerung des Christentums aus anderer Wurzel erfolgen. Keine Gestaltung ist unsterblich. Unsterblichkeit gibt es allein in Form von Wiedergeburt. Das juristische Recht als solches wird auf dem Gebiet des Geists genau so grausam immer wieder ad absurdum geführt, wie der Tod alle individuellen Ansprüche Mal auf Mal erledigt. Katholisch dem Sinne nach wird das Christentum von morgen gewisslich sein. Aber vermag der legitime Erbe das nicht zu leisten, wozu er berufen ist, dann überträgt die Vorsehung sein Amt dem Revolutionär. Die Idee des Katholizismus fordert an erster und letzter Stelle Universalität.

Sie verlangt Vereinigung der drei großen Aspekte möglichen Christentums, die sich in den drei großen Konfessionen konkretisiert haben, auf höherer Ebene. Bleibt der historische Katholizismus gerade dann eng und starr, wo Steigerung der Katholizität von ihm verlangt wird, dann bleibt ihm, wegen der Höhe seines berechtigten Anspruchs, als zweite Alternative nur — der Untergang. Innerhalb der rein katholischen Völker sind so gut wie alle, die historisch zählen, antiklerikal. Nur in Deutschland rekatholisiert sich der Katholizismus bisher ernstlich. Und auch in Deutschland werden wieder und wieder tief katholische Geister, die aber ihr Wissen und Gewissen nicht vergewaltigen können, zum Austritt gezwungen…

1 Die letzten Gedankengänge habe ich im Kapitel Jesus der Magier meiner Menschen als Sinnbilder genau ausgeführt.
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Die geistige Menschheitseinheit
© 1998- Schule des Rades
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