Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Spannung und Rhythmus

Gesetz des Ausgleichs

Aus diesem kurzen Gedankengange folgt die grundsätzliche Verfehltheit aller Lebensideale statischer Art, heißen diese ewiger Friede bei den Völkern oder vollkommene Abgeklärtheit und Ausgeglichenheit beim Einzelnen oder wie sonst. Das sind Ideale des Todes, nicht des Lebens. Wohl ist ein harmonisches Zusammenwirken aller Teile einer organischen Einheit in jedem Falle zu erstreben, und die so erzielte Harmonie mag unter Umständen einem ausgeglichenen physikalischen Kräftesystem sehr ähnlich sehen. Doch diese bezeichnet hier nie die letzte Instanz, sondern nur ein bestes Ausdrucksmittel; und je mehr das Mittel den Charakter des Selbstzwecks annimmt (wie im Falle niederer Tiere oder erstarrter Berufstypen), desto minderwertiger, weil unlebendiger, wirkt das Leben. In dessen Fall ist ja bei der Wiederkehr des Gleichen nicht diese das Wesentliche, sondern dass sich durch Gleiches hindurch in jedem Augenblick Niedagewesenes, Originales manifestiert. Deshalb handelt es sich bei allen sogenannten Vollkommenheits­zuständen, von der physischen Gesundheit bis zur Klassik, um alles eher als solche der Ausgeglichenheit: es handelt sich um Zustände zukunftsträchtigster und dauerhaftester Spannung. Deshalb haben die größte Fortschrittsbedeutung jeweils die Kulturen und Einzelnen gehabt, welche, gleichviel ob innerlich harmonisiert oder nicht, die stärksten Spannungen verkörpernd, solche im höchsten Grad zu übertragen wussten. Selbstverständlich: auf der Ebene der Natur betrachtet, welche als solche nur Veränderung kennt, beruht jeder Fortschritt auf der Einleitung eines neuen Lebensrhythmus, und ein solcher setzt sich nur durch, sofern er mächtig genug ist, um den konsolidierten Gleichgewichtszustand, welchen er vorfindet, zu erschüttern. Diese Bestimmung fordert weiter eine Ergänzung, welche dem statischen Vollkommenheitsideal, wie mir scheint, den Todesstoß versetzt: um einen konsolidierten Gleichgewichtszustand zu erschüttern, muss die Kraft nicht allein groß sein an sich, sondern auch exzentrisch wirken, also dreinschießen gleichwie ein fremder Komet in ein wohleingefahrenes Planetensystem. Dementsprechend kam jeder Impuls der Erneuerung, in politischem Gleichnis, das zugleich mehr als ein Gleichnis darstellt, ausgedrückt, von links; ebendeshalb endete jeder zuletzt, sofern sein Rhythmus vollständig gesiegt und jede lebensbeschleunigende Wirkung eingebüßt hatte, in toter Routine, wurde allenfalls dann noch einmal schöpferisch, wenn ein neuer starker Impuls von links die Träger des Alten in die Stellung der extremen Rechten drängte. Die vernünftige Mitte war noch niemals schöpferisch.

Nun bekennt aber jeder Mensch instinktiv Ideale, welche jenseits von rechts und links belegen sind und, rein äußerlich betrachtet, der liberalen Anschauung der Mitte am ähnlichsten sehen: wie löst sich der Widerstreit? Er löst sich so, dass jedem instinktiv auch auf geschichtlichem Gebiet ein höherer Spannungszustand vorschwebt, welcher die bestehenden Gegensätze in sich vereinte, wie ihn solche in ihrem Bereich die Zustände der Gesundheit und der Klassik darstellen. Aber gerade die genannten Zustände beweisen klar, dass die Vereinigung der Gegensätze nicht deren Ausgleich bedeutet. Hier sind wir am Punkte angelangt, welcher lebendige und tote Harmonie haarscharf voneinander zu unterscheiden erlaubt: dem Ausgleich der Gegensätze unter den toten Stoffen entspricht deren Kontrapunktierung im Fall des Lebendigen. Ein Organismus gleicht deshalb allem eher als einem Sonnensystem, weil sein Leben, äußerlich betrachtet, den labilen, nicht stabilen Gleichgewichtszustand bedeutet, in dem ein Prinzip höherer Ordnung nicht ausgeglichene Gegensätze schwebend erhält. Dies gilt nun von allem Leben, auch dem historischen der Menschheit, auch dem geistigen. Jede Vereinheitlichung im Guten bedeutet hier nicht Ausgleich, sondern Kontrapunktierung; die richtig verstandene Fortschrittsidee betrifft nichts anderes als die Forderung, immer weitere Zusammenhänge kontrapunktiert zusammenzufassen. Und diese ist ihrerseits wiederum grundsätzlich erfüllbar, weil, wie immer man dies deute, auch die Welt des Psychischen nachweislich zusammenhängt, nicht anders wie auf der physischen Ebene unser Sonnensystem. Deshalb ruft auch hier jede bestimmte Bewegung automatisch ihre Gegenbewegung wach, so dass Radikalismus recht eigentlich Konservatismus zeugt, Sanftes Hartes, Gutes Böses und umgekehrt. Deshalb bilden Ober- und Unterwelt tatsächlich, dem Sinn aller Göttermythen gemäß, welche die Psychoanalyse auf erhöhter Verständnisstufe neu bewahrheitet hat, ein geschlossenes Ganzes. Insofern beherrscht das Gesetz des Ausgleichs einsinnig die ganze Welt1.

Da dem nun also ist, so muss ein allgemeiner umfassender Rhythmus freilich erzielbar sein, in dem die bisherigen Gegensätze sich gegenseitig kontrapunktierten, nicht aufhüben. Eben dies ahnen wir alle, sofern wir Vollkommenheit wollen. Doch gerade hier erweisen sich unsere physikalischen Eingangsbetrachtungen als besonders fruchtbar: der umfassendere Spannungszustand kommt überall erst dort zustande, wo die Partialspannungen sich durch Superposition harmonisiert haben. Dies ist überall nur möglich in einer gereiften Welt. Die der geistigen Menschheit befindet sich nun unstreitig noch in chaotischem Zustand, etwa in dem der Sternmaterie, bevor diese sich zu den heutigen Sternensystemen konsolidierte. Sie ist zur Verwirklichung des Menschheitsideales noch zu jung. Dementsprechend gab es, mögen seltene Einzelne, für sich betrachtet, von jeher welchen Vollendungsgrad nur immer erreicht haben, unter historischen Zuständen bisher, vom Standpunkt der Menschheit, ausschließlich Elemente. Die Rhythmen, welche sie verkörperten, waren allesamt exzentrische, besondere und einseitige, nicht allumspannende, und dies zwar selbstverständlich so, insofern es sich um historische Zustände handelte: Geschichte, so wie wir sie verstehen, wäre anders als einseitig gerichtet verstanden, ein Begriff ohne Inhalt. Die Menschheitsgeschichte verliefe freilich im Jenseits aller bisherigen Einseitigkeiten. Doch diese hat noch nicht begonnen. Wohin man den Blick in Raum und Zeit auch wendet: andere als einseitige Bewegtheitszustände sind nicht festzustellen. Aller bisherige Fortschritt kam auf dem Wege dessen zustande, was die Psychoanalyse Überkompensation heißt: genau wie wir Heutigen einseitig intellektuell sind, insofern allen früheren Typen freilich überlegen, jedoch in anderen Hinsichten korrelativ zurückgeblieben, genau so galt dies jeweils von der hellenischen, römischen, der frühchristlichen und mittelalterlichen Welt; als vermeintliche Totalitäten haben sich diese Kulturen sämtlich missverstanden. Und genau so hat man alle großen Erneuerer missverstanden, insofern man sie, als historische Wirkungseinheiten, für Sinnbilder allseitiger Vollendung hielt. Christus war im höchsten Grade einseitig, denn er stand im bewussten Gegensatz zu beinahe allem Besten der antiken Kultur; gleiches gilt von Buddha im Zusammenhang mit der brahmanischen, von der viel größeren Einseitigkeit der Luther, Ignatius, Franziscus, Mohammed und israelitischen Propheten zu schweigen.

Bis heute gab es noch keine wahrhaft ökumenische Kultur, konnte es auch keine geben, denn dazu ist der Organismus der Menschheit eben noch zu jung. Wie stand es denn mit der vielverherrlichten Oikumene der Spätantike? Nur deshalb unterlag diese den Anstürmen der zahlenmäßig so geringen Barbarenhorden, weil sie keine Idealspannung verkörperte, sondern deren Gegenteil: die Ausgeglichenheit des Todes. Eben dies würde vom modernen Westen gelten (den dann auch zweifellos ein ähnliches Schicksal ereilte), wenn der mechanistische Liberalismus in ihm siegte oder auch die Sozialdemokratie, dieses letzte Altersprodukt des Geists des 18. Jahrhunderts: beider Weltanschauungen sind solche der Ausgeglichenheit. Deshalb werden beide auch von keinem lebendigen Impulse mehr getragen und bringen keine neuen Gedanken, keine bedeutenden Persönlichkeiten mehr hervor. Demgegenüber bestehen die vermeintlichen Oikumenen des Katholizismus, des Brahmanismus und des Mahāyāna lebendig fort, weil sie, innerlich, in ihren Teilen, nicht ausgeglichen, sondern kontrapunktiert, in bewusstem Spannungsverhältnis zu dem, was sie nicht sind, leben. Aus all diesen Sondererwägungen folgt nun eine grundsätzliche Erkenntnis, über die sich die Universalisten noch niemals klar geworden sind: dass unter den gegebenen Verhältnissen nicht Allseitigkeit, sondern vielmehr Einseitigkeit den kürzesten Weg darstellt zur Totalität. Die geistige Welt hängt unter allen Umständen zusammen. Solange aber ihre Bewegtheit im Stadium des Durcheinander, des Chaos verharrt, kann es sich nur darum handeln, jede einseitige Bewegung so energisch durchzuführen, dass das Ganze eben dadurch gezwungen wird, durch Satz und Gegensatz hindurch, einer höheren rhythmischen Einheit zuzuschwingen. Freilich ist Einseitigkeit nur unter Voraussetzung von Jugend und Blindheit möglich; aber eben diese Voraussetzung trifft historisch und bis heute durchaus zu.

Von hier aus erlebt denn das alte Gebot, dass man vor allem sich selber treu sein soll, eine Bestätigung, die seinen Sinn zugleich verwandelt. Von hier aus wird ganz klar, inwiefern die heutige Völkerfeindschaft, wie alle Tieferen ahnen, die Schwelle bedeutet zur künftigen Menschheitssolidarität, und Nationalismus, vom Standpunkt Paneuropas, gegenüber allem Internationalismus, das Günstigere ist. Vor allem aber erhellt von hier aus die tiefe Berechtigung unserer Abendländerüberzeugung, dass wir vor allem, vom Standpunkt des Fortschritts, auserwählt sind. Ich sagte vorhin metaphorisch, aller Fortschritt käme von links: nun, wir stellen gleichsam die Linke der Menschheit dar. Dementsprechend beruht unser Vorzug nicht auf unserer vermeintlichen Universalität oder gar Vollendung — als ob wir uns in dieser Hinsicht auch nur entfernt mit dem Osten vergleichen dürften! —, sondern auf der Einseitigkeit der Bewegung, die wir verkörpern. Unsere Kultur ist die einseitigste und unliberalste, die es je gab. Sie ist aber zugleich die bewegteste, dynamischeste aller Zeiten. Daher unsere Bedeutung. Wir durchschüttern die Welt mit den gewaltigsten Spannungen, welche je bisher in die Geschichte eingriffen.

Unser Rhythmus bringt den ganzen Erdball außer Gleichgewicht und schafft dadurch die Zusammenhänge, deren bewusstes Dasein die erste Voraussetzung bedeutet einer künftigen Menschheitssolidarität. Dank uns erst werden die bisher abgeschlossenen und selbstgenügsamen Kulturen des Ostens menschheitsbedeutsam. Wenn heute Missionare vom Ganges und vom Gelben Strom zu uns herüberreisen, so bedeutet dies gleichsam die Rückflut nach der großen Flut, welche wir über jene stillen Landschaften gebracht haben. Wir vertreten, noch einmal, die einseitigste und zugleich stoßkräftigste Kultur, die es je gab; deshalb ist Heroismus die uns einzig gemäße Gesinnung, deshalb bringt pazifistische und passivistische nichts Bedeutendes bei uns hervor. Inwiefern dürfen wir uns aber, von wegen unserer extremen Einseitigkeit, für vor allen auserwählt halten? Denn unsere Auserwähltheit geht aus dem Bisherigen nicht notwendig hervor. Nun, weil unsere Spannung so groß und unser Rhythmus so übergreifend ist, dass dieser, unter der Voraussetzung des wesentlichen Zusammenhangs der Menschenwelt, auf die Dauer das Ganze vereinigen muss, wodurch unsere Einseitigkeit sich letztendlich selber aufhübe. Wir führen durch unsere Einseitigkeit eben jene Allseitigkeit herbei, eben jenes jenseits von rechts und links, die jedem metaphysisch Bewussten als Ideal eines Menschheitszustands vorschweben.

1 Vgl. über das Verhältnis des Gerechtigkeitsbegriffs zum physikalischen Gesetz des Ausgleichs meinen Aufsatz Gerechtigkeit und Billigkeit im 11. Heft des Wegs zur Vollendung.
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Spannung und Rhythmus
© 1998- Schule des Rades
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