Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Freiheit und Norm

Selbstbestimmung

Was wir Freiheit heißen, ist in erster Instanz so zu bestimmen, dass es zur unzurückführbaren irrationalen Gegebenheit des Menschenwesens gehört. Es ist recht eigentlich sinnwidrig, von einer abstrakten Definition des Freiheitsbegriffes auszugehen und dann zuzusehen, ob der Mensch nun wirklich frei sei oder nicht. Ein Begriff, der allen Menschen einfällt, den jedermann versteht, hat unter allen Umständen eine reale Unterlage, und zwar, insofern er eine Betätigungsart von anderen differenziert, eine andere Unterlage, als andere Begriffe. Vernünftigerweise muss zuerst gefragt werden: worin besteht das, was der Mensch von jeher Freiheit heißt? Da wir schon festgestellt haben, dass es Freiheit im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit für uns schon deshalb nicht gibt, weil wir solche, falls es sie gäbe, doch immer nur im Rahmen von Gesetzen begreifen könnten, so bleibt nur der Unterschied von Freiheit und Notwendigkeit zu untersuchen. Und hier können wir wiederum eine theoretische Möglichkeit von vornherein praktisch auswerten. Der betreffende Unterschied kann grundsätzlich nicht darin liegen, dass das freie Geschehen ursachlos erfolgte: gibt es solches, so können wir es keinesfalls denken, und der Inhalt des ursprünglichen Freiheitsbegriffs erscheint evident. Da kann Freiheit offenbar nur Selbstbestimmung bedeuten. Dies tut sie nun in der Tat.

Ich wüßte keine ihrer differenzierten Bestimmungen und Deutungen, die anderes meinte. Andererseits kann diese Bestimmung durch keinen nur möglichen Unfreiheitsbeweis auf logischem Gebiet als falsch erwiesen werden, weil Selbstbestimmung sowohl im Sinne absoluter Freiheit, als im Sinn von Bindung durch das eigene Wesen, als endlich in dem eines von innen heraus wirkenden Automatismus verstanden werden kann. Denn sei der Mensch auch ein biologischer oder logischer oder ethischer Automat, werde sein bewusstes Leben auch ganz vom Unbewussten regiert, fehlte ihm sogar die Freiheit, auf dessen Antriebe mit ja oder nein zu antworten — die Tatsache bleibt bestehen, dass etwas ihn bestimmt, womit er sich selbst identifiziert und identifizieren nicht nur kann, sondern muss. Wir sahen vorhin, dass wir den Zwang der Logik als solchen nicht empfinden, weil wir ihn selbst verkörpern. Nicht anders sind wir in allen betrachteten Hinsichten unter allen Umständen selbstbestimmt; fraglich bleibt einzig, in welchem Sinne jeweils und in welchem Grade. Geben wir uns nun über unser tiefstes unmittelbares Meinen Rechenschaft, so finden wir, dass wir unter Freiheit tatsächlich nie anderes verstehen als eben Selbstbestimmung. Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass wir die Gewissheit fühlen, aus eigenem Recht zu leben.

Dieses Gewissheitsgefühl entspricht nun durchaus der Wirklichkeit. Und zwar lebt nicht allein der Mensch, sondern alles Lebendige in einer Dimension aus eigenem Recht. In einer Dimension geht bei allem Lebendigen die Kausalreihe durch das hindurch, was wir beim Menschen das Subjekt heißen. Mag das Lebendige durch die Außenwelt noch so determiniert sein, eine generatio aequivoca gibt es nicht, nur von Lebendigem zu Lebendigem setzt sich das Leben fort, jeder Typus erhält und wandelt sich nach eigenem Gesetz1. Insofern entspricht der ursprüngliche Freiheitsbegriff der Wesensart alles Lebendigen im Unterschied von der des Toten. Weiter unterscheidet sich alles Lebendige von allem Toten gleichsinnig dadurch, dass es ein von innen heraus zur Ganzheit zusammengefasstes kompliziertes Mannigfaltiges und als solches Bewegbares und Bewegtes ist. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Zwangsläufigkeit eines chemischen Prozesses einerseits, und andererseits der Art, wie ein Organismus auf Reize und Motive reagiert.

Ferner ist jeder Organismus wesentlich einzig, d. h. von der Einzigkeit des Sinneszusammenhangs, den jeder jeweils darstellt, kann niemals abgesehen werden. Sobald die Elemente, die ihn zusammensetzen, auf ein anderes als sein eigenstes Zentrum bezogen werden, ist die gemeinte Monade nicht mehr da, entweder tatsächlich, indem ihre Ganzheit zerstört wird, oder im Bewusstsein des anderen, der sie nun missversteht. Aus diesem Grunde ist der Weg des Lebens ganz wesentlich unvoraussehbar, trotz aller typischen Gleichartigkeit: keine Statistik ermöglicht den einzigen Fall als solchen vorauszubestimmen, und beim Lebendigen kommt gerade auf diesen alles an. — Endlich unterscheidet sich alles Lebendige von allem Toten dadurch, dass es unter den Einflüssen, denen es unterliegt, von sich aus eine Auswahl trifft. Dies gilt gleichsinnig von der spezifischen Merkwelt der niedersten Organismen bis zur freien Entscheidung des Menschen. Das gleichfalls spezifische Reagieren der toten Körper bedeutet demgegenüber ein wesentlich anderes, insofern als hier keine aktive Auswahl statthat, und von keinem Jenseits der Naturelemente, der Entelechie, dem Ganzen oder in meiner Sprache dem besonderen Sinneszusammenhang, den jedes Lebewesen darstellt, her. — Natürlich gibt es noch mehr Unterscheidungsmerkmale des Lebendigen gegenüber dem Toten, aber im vorliegenden Zusammenhang kommen die genannten allein in Betracht.

1 Vgl. über die Selbständigkeit des Lebens die genaue Ausführung im Kapitel Der Sinn des ökumenischen Zustands meiner Neuentstehenden Welt.
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Freiheit und Norm
© 1998- Schule des Rades
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