Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Grenzen der Menschenkenntnis

Einzigkeit der Person

Betrachten wir nun aber die Gebiete möglicher Menschenkenntnis, auf denen unfehlbares Wissen und Können möglich sind, genauer, so muss uns auffallen, dass hier eigentliches Verstehen eine nur geringe Rolle spielt. Der Politiker versteht die einzelnen Menschen in der Regel überhaupt nicht, welche er richtig behandelt. Hier bietet die englische Staatskunst das klassische Beispiel: so meisterhaft sie mit den verschrobenen Vorurteilen der verschiedenen Inderarten operiert, kein englischer Staatsmann nahm sich wohl je die Mühe, sich in diese wesensverstehend einzufühlen. Wobei uns denn — die Analogie liegt nahe — einfallen muss, dass die besten Frauenkenner und -behandler die sind, die auf das einzige Wesen der jeweils fraglichen nicht die größte, sondern die geringste Rücksicht nehmen. Bedenken wir nun weiter, dass der Psychoanalytiker alles Besondere und Ausschließliche am einzelnen Menschen, welchen er behandelt, auf Elementar-Typisches zurückführt, was doch nichts anderes bedeutet, als dass er dem Einzigen seine Einzigkeit nimmt und ihm folglich persönliches Verständnis nicht beweist — denn die Person steht und fällt mit ihrer Einzigkeit —, so beginnen wir zu ahnen, wie das Problem der Grenzen möglicher Menschenkenntnis, sofern es richtig gestellt wird, liegt.

Wir übertreiben kaum, wenn wir behaupten, dass nach der Richtung des Kumulierten (der Menschenmassen) und des Elementaren (der Triebgrundlagen und des kollektiv-psychologischen Untergrundes des Einzelnen) überhaupt keine Grenzen vorliegen. Aber andererseits bedarf es auf diesem Gebiet kaum eigentlich des Verstehens. Hier trägt die Kenntnis keinen anderen Charakter als die von den äußeren Naturtatsachen, die man vollkommen meistert, ohne von ihrem eigentlichen Wesen die mindeste Ahnung zu haben noch auch haben zu können. Verstehen hingegen geht seinem eigentlichen Begriff nach auf das Wesenhafte und folglich Subjektive, d. h. auf das, was das Objektive dem konkret gegebenen einzigen Menschen persönlich bedeutet; nicht zwar auf das Subjektive im üblichen Verstand, als die Meinung im Gegensatz zum Wissen, sondern in dem Sinn, was das Objektive dem Betreffenden wirklich, jenseits aller Illusionen und Ausdeutungen, bedeutet.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Grenzen der Menschenkenntnis
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