Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung

Unbewusstes und Bewusstes

Nicht wenige meiner Freunde äußern Bedenken darüber, dass ich mich praktisch mit Psychoanalyse befasse: durch das Beispiel der geistigen und seelischen Helfer aller Zeiten, und neuerdings durch die zweite Schule von Nancy sei doch erwiesen, dass Selbstvervollkommnung auch ohne sie gelingt; überdies sei fraglich, ob ihre bloßen Voraussetzungen der Wahrheit entsprechen. Nun, allein um mir über letzteres Problem ein Urteil zu bilden, musste ich persönliche Bekanntschaft mit ihr schließen. Nur dort, wo der Gegenstand möglicher Erfahrung dem Kritiker bekannt ist, können dessen theoretische Einwände auf Beachtung Anspruch erheben. Und im Fall der Analyse konnte ich mich des Eindrucks, schon ehe ich sie praktisch kennenlernte, nicht erwehren, dass die meisten ihrer Ablehner nicht wussten, wovon sie sprachen. Seither ist dieser Verdacht mir zur Gewissheit geworden. Ich weiß überdies, warum er zutreffen musste. Erstens ist das vor allem dem Menschen in sich unbewusst, was er nicht wissen will; deshalb verhindert der Zensor an der Grenze mit äußerstem Raffinement alle direkte Kenntnis; zweitens aber ist das Unbewusste eine Wesenheit so anderer Art, als der normalbewusste Teil der Psyche, und leuchten die Gesetze jenes diesem von Hause aus so wenig ein, dass niemand auf diesem Gebiete vorstellen kann, was er nicht an persönlicher Erfahrung kennenlernte. Seitdem ich Letzteres nun so gründlich, als mir dies möglich war, getan habe, muss ich anerkennen, dass die Analytiker gegenüber buchstäblich allen, die ihre Wissenschaft aus Vorurteil beanstanden, leichtes Spiel haben.

Es ist wirklich so, dass das Unbewusste den weitaus größten Teil des geistig-seelischen nicht minder als des körperlichen Menschen-Wesens in sich begreift. Der Mensch weiß von dem, was in ihm psychisch vorgeht, kaum mehr und hat kaum mehr unmittelbare Macht über den Prozess, als das Bewusstsein am Körperlichen spiegelt und regiert. Die tiefsten und weisesten und entscheidendsten Instanzen und Faktoren seiner Psyche gehören dem Teil ihrer an, der von Hause aus und normalerweise unbewusst bleibt. Und zweifellos muss jede Psychologie, Philosophie, Moral und Metaphysik als falsch gelten, die zu den gesicherten Ergebnissen der Tiefenpsychologie (was gewiss nicht von allen Ergebnissen gilt, die sich für gesichert ausgeben!) irgendwie in Widerspruch steht. Ich muss auch anerkennen, dass die Seele des modernen Menschen typischerweise einen analytischen Fall darstellt. Die Entwicklung der letzten Jahrhunderte hat es mit sich gebracht, dass Unbewusstes und Bewusstes sich nicht harmonisch ergänzen und dass nicht das unbewusst ist, was unbewusst sein soll, nicht das bewusst, was normalerweise bewusst ist, sondern dass vielfach das Umgekehrte gilt. Insofern ist Analyse heute wirklich typischerweise berufen, zur möglichen Höherentwicklung des modernen Menschen die Vorarbeit zu leisten. Gewiss gilt dies nur dort, wo Höherentwicklung überhaupt in Frage steht: die Menschen, die physiologisch über den Amor fati nicht hinauskönnen, sollten sich ihre Seelengefüge nur im äußersten Notfall auflockern lassen1. Aber hier wie überall habe ich ausschließlich die Fortschrittsfähigen im Auge. So kann denn die Schule der Weisheit an der Psychoanalyse nicht vorübergehen, gerade insofern Selbstvervollkommnung ihr ein Ziel ist. Höherbau ist nur auf fester Grundlage möglich. Und ein Mensch, dem sein Unbewusstes einen unbekannten Feind bedeutet, dessen Urkräfte ihm nicht dienen, sondern ihn bekämpfen, hat keine gesicherte Grundlage, von der er ausgehen kann.

Unter diesen Umständen steht grundsätzlich nicht in Frage, ob man die Psychoanalyse als Mittel grundsätzlich annehmen oder ablehnen soll, sofern Selbstvervollkommnung erstrebt wird, sondern wo die Grenzen ihrer möglichen günstigen Wirkung liegen. Dieses Problem gedenke ich in diesem Kapitel zu behandeln, wobei ich mich sehr kurz fassen und auf Darstellung dessen, was die Analyse ist, fast ganz verzichten werde, da heute von jedem Gebildeten verlangt werden darf, dass er um den allgemeinen Tatbestand Bescheid weiß.

1 Zu letzterem Problem vergleiche man zwei Schriften von Hans Prinzhorn: Gespräch über die Psychoanalyse, Niels Kampman, Celle, und Bewusstsein als Verhängnis, Fr. Cohen, Bonn.
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung
© 1998- Schule des Rades
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