Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung

Jenseits des Ich

Von hier aus gelingt es denn leicht, den Angelpunkt der Selbst­vervoll­kommnung zu fassen, soweit solche an der Psychoanalyse anknüpfen kann. Noch immer tobt der Streit, welche Theorie die absolut bessere sei, die von Adler oder von Freud. Dieser Streit geht von falscher Fragestellung aus. Erstens wird keine dieser Theorien allen Fällen gerecht, weil jede allen Nachdruck auf eine Seite des Seelengefüges legt, die im gegebenen nicht die Hauptseite zu sein braucht. Weiter geht jede implizite von bestimmten konkreten Voraussetzungen aus, die nicht jedesmal zutreffen. Jung meint, die Freudschen träfen oft für Juden zu, weit seltener für Germanen. Der Charakter des Unbewussten hänge von der Geschichte der Rasse ab, deren Alter und Schicksal; so sei des Nordländers Unbewusstes im ganzen barbarisch-primitiv und entsprechend unerotisch, während der historisch so alte Jude in derselben Schicht differenzierter Alexandriner sei. Sicher ist Freuds Psychologie vorzüglich eine des überreizten. Ebenso hat Adler vorzüglich für solche recht, die sich der einzigen Seite ihres Wesens in übertriebenem Maß und in falscher Hinsicht bewusst sind, welcher Zustand die Suggestion des modernen Zeitgeists überaus leicht bewirkt; wo das Gemeinschaftsbewusstsein vorherrscht, wie in allen gebundenen Gesellschaftszuständen, dort können nur ganz ausnahmsweise, ja eigentlich nur unter Tyrannen Adlersche Fälle vorkommen.

Eine Studie der Naturvölker von diesem Gesichtspunkt führte sicher zu lehrreichen Aufschlüssen. Zweitens und vor allem aber ist es grundsätzlich verfehlt, auf psychologischem Gebiet nur eine Deutung für berechtigt zu erklären. Hier handelt es sich nämlich durchaus um Sinneszusammenhänge, und solche können, grundsätzlich gesprochen, beliebig zentriert werden. Grundsätzlich darf hier jedes Ganze auf beliebige Bezugszentren bezogen und auf beliebige Flächen, soweit diese überhaupt vorhanden sind, projiziert werden; dementsprechend lässt sich die Zweckmäßigkeit beider Theorien an geeigneten Fällen unzweideutig erweisen. Unter keinen Umständen aber mehr. Was bei nicht allen Tatsachen auf einmal gerecht werdenden Theorien vernünftigerweise in Frage steht, ist keinesfalls die absolute Richtigkeit, sondern einzig die jeweilige Brauchbarkeit. Und hiermit gelangen wir zum entscheidenden Einwand gegen die Analytiker: dass sie die Komplexität des psychischen Lebens überhaupt aus einem einzigen Grundfaktor als Ansatzpunkt erschöpfend begreifen wollen. Dies Unternehmen erscheint, rein a priori betrachtet, bei der nachweislichen Vieldimensionalität des Lebens aussichtslos. Olga von Ungern-Sternberg hat wahrscheinlich gemacht (siehe den Leuchter 1925 und den Astrologischen Almanach des gleichen Jahrs, Theosoph. Verlagshaus, Leipzig), dass, allgemein gesprochen, das Schema von 5 angenommenen Grundfaktoren zum vollständigsten Verständnis des Seelengefüges führt, welche 5 Faktoren in ihrer Qualifiziertheit den 5 astrologischen Planeten (und interessanterweise auch dem Charakter der Griechengötter, deren Namen sie tragen) genau entsprächen. Danach handelte es sich bei der Libido, mit der allein Freud und seine Schule auszukommen suchen, um das Prinzip allein, das der Planet Mars symbolisiert, aus welchem einen Hinweise die Einseitigkeit und Unvollständigkeit der Libido-Theorie auf einmal einleuchtet.

Bewährt sich die Auffassung der genannten Autorin, so ergäbe dies eine beinahe vollständige Bestätigung meiner Theorie des Zusammenhangs von astrologischen Voraussetzungen und analytischen Ergebnissen, wie sie in Weltanschauung und Lebensgestaltung niedergelegt steht. Doch wie dem auch sei: mehr als einer Seite eines vielseitigen Zusammenhangs wird keine der analytischen Grundtheorien gerecht. Dementsprechend muss deren Brauchbarkeit, je nach den behandelten Objekten, verschieden sein. Jede von ihnen wird bestimmten konkreten Fällen besser als die anderen gerecht. Und ebenso erweist sich deren Zweckmäßigkeit als verschieden, je nach der Einstellung auf Praxis oder Theorie, und innerhalb deren Bereiches je nach dem zu erforschenden Gebiet. In der reinen Tatsachenerkenntnis im Sinne der Naturwissenschaft führt die psychologische Theorie von Freud wohl am weitesten. Im Sinne möglicher Selbstvervollkommnung steht die Alfred Adlers obenan. Und hier handelt es sich um keinen relativen, sondern einen absoluten Vorzug, weil eine bestimmte Bewegung nur von einer Seite einzuleiten ist. Nur vom Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsbedürfnis her ist der psychische Zusammenhang praktisch in Bewegung zu setzen. Es gibt schlechterdings nur den einen Urtrieb des machthungrigen Ich, dessen eigener Sinn die Zielrichtung der Selbststeigerung setzte.

Mit dieser Feststellung setze ich mich im übrigen aber durchaus nicht für Alfred Adlers Weltanschauung ein. Es gilt durchaus nicht, jedermann zum normalen Gemeinschaftsmenschen zu restaurieren. Erstens steht die Gemeinschaft nicht über dem Einzig-Einzelnen, sondern umgekehrt. Dann aber versteht Adler unter Gemeinschaft nur distanzlose Gemeinschaft, im Sinn der Sardinenbüchse oder des Ghetto. Und nur das Prinzip der Distanz, nicht das der Intimität, schafft Beschleunigung und Veränderung, die allein Fortschreiten herbeiführen kann. In dieser Hinsicht ist Adlers Theorie und Praxis wohl restlos als Ausdruck jüdischen Ressentiments zu verstehen: alle Distanz soll aufgehoben werden, damit es ja keine Unterschiede mehr gebe unter den Menschen. So hat denn Adler einen wichtigen Hebel der Menschennatur als solchen zuerst richtig anerkannt, aber lehrt nicht allein nicht, ihn richtig anzuwenden, sondern er lehrt direkt falsche Anwendung überall, wo nicht gerade ein richtiger Adlerscher Krankheitsfall vorliegt. Wie ich’s schon schrieb: beim Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben ist anzusetzen; es gilt nur in pathologischen Ausnahmefällen, dasselbe fortzuanalysieren. Von hier aus wird denn klar, wie sinnwidrig es ist, Ehrgeiz und Machtstreben auch nur in dem harmloseren Sinn als Fehler zu verurteilen, wie dies durch die christliche Lehre geschieht: sie sind die Naturgrundlage alles Höherstrebens. Von hier aus begreifen wir den wahren Sinn von Nietzsches Lebenslehre. Vor allem aber leuchtet von hier aus erst ganz ein, weshalb das Christentum an entwicklungs­beschleunigender Kraft alle anderen Weltreligionen so sehr übertrifft: keine andere knüpft so zielsicher am psychologischen Angelpunkt möglicher Selbstvervollkommnung an.

Aber allerdings führt gerade dieser Gedankengang weiterhin über die Grenzen des bisher verwirklichten empirischen Christentums hinaus. Dessen Fehler bestand in der Angst vor der Sündigkeit, die sich in die Verdrängung dieser umsetzte. Die Psychoanalyse nun hat die Verfehltheit jener Angst nicht nur erkennen, sondern verstehen gelehrt und eben damit den Weg zur einzig ersprießlichen Unbefangenheit zurückgewiesen. Seitdem wir wissen, welch höllenhafte Abgründe jede Seele birgt, wie jedes Triebleben zu einem sehr beträchtlichen Teil in ersehnter babylonischer Ausschweifung besteht, Vergewaltigungs- und Mordgelüsten, wilder Gier und feigem Neid, welche Abgründe zum Leben ebenso notwendig sind wie das Darmleben zur Erhaltung des Hirns, wird auf der höheren Subjektstufe (um in Jungs Sprache zu reden) eben das wieder möglich, was dem Dämonen, und Göttergläubigen auf der Objektstufe zu so reich ausgeschlagenem und gleichzeitig tief verwurzeltem Dasein half: ein positives Verhalten zu seinem ganzen Wesen.

Hier wäre denn der Ort, der besondern Verdienste Jungs zu gedenken und zugleich die Grenzen seiner Betrachtungswelt zu bestimmen. Auch Jung ist reiner Naturwissenschaftler. Zum Metaphysischen weist auch seine Anschauung nicht den Weg. Aber seine letzten Instanzen sind tiefere als die der anderen analytischen Schulhäupter, insofern er allein das Generelle, das alles Natürlich-Individuelle trägt, auf der Ebene nicht nur des Animalischen, sondern des spezifisch Menschlichen erfasst hat — durch seine Mythenlehre und die von ihm begründete Seelen-Paläontologie — und in der Individualität eine mögliche Naturinstanz oberhalb des Ich bestimmt. Deshalb führt er allein unmittelbar an die Grenze des Metaphysischen heran. Deshalb sind seine Betrachtungen über das Religiöse immer aufschlussreich: betreffen sie auch nirgends dieses selbst, so doch jedesmal dessen kollektiv- und individuell-psychologisches Verkörperungsmittel. Aber wer nun selbst metaphysisches Bewusstsein hat, der gelangt gerade durch Jung über Jung hinaus. Der erreicht, mittels der Analyse, nicht allein auf der Subjektstufe ein positives Verhalten zu seinem ganzen Wesen, sondern vom metaphysischen Selbst, vom Sinne her. So wenig sie selbst den eigentlichen Sinn ihrer Leistung ganz erfasst haben: eben dank den Analytikern wissen wir, dass das Böse dem Menschen nicht etwa überlegen ist, sondern seine eigene Unterwelt darstellt, die zum Guten allein zu benutzen in des bewusst gewordenen Selbstes Macht liegt. Dieses beherrscht grundsätzlich alles das, was den Ich-Verhafteten seinerseits beherrscht: sogar das Dämonenalphabet vermag der Mensch durch freie Sinngebung zum Ausdrucksmittel für Göttliches zu zwingen. Hat die Menschheit als Ganzes einmal das hier skizzierte Überlegenheitsniveau erreicht, dann werden sämtliche transzendenten Probleme des Ich nicht zwar gelöst, sondern erledigt sein. Indessen aber genügt der kleine Einstellungsunterschied gegenüber der herrschenden europäischen Lebensanschauung, den die Idee der Selbstvervollkommnung von der Psychoanalyse her bewirkt, um der Möglichkeit nach eine Ära fortan grundsätzlich unbeirrbaren Aufstiegs einzuleiten, mögen praktisch auch noch solange und häufige Perioden kompensatorischen Niedergangs erfolgen. Und dieser Aufstieg führt von sich aus über eine zweite Grenze der traditionell-europäischen Lebensanschauung hinaus: die Egozentrizität in der Bestimmung des Heils.

Der bisherige Christ strebte als Ich vollkommen zu werden, um so gleichsam mit Haut und Haaren in den Himmel zu kommen. Heute wissen wir, dass eine Vollkommenheit des Ichs schlechthin undenkbar ist: Vollkommenheit gibt es ausschließlich jenseits des Ich, im Selbst. Und von dieser Erkenntnis her werden zwei tiefe, aber vielen desto dunklere christliche Lehren mit einem Schlag verständlich: dass das Ich geopfert werden muss, und dass Geben seliger ist als Nehmen. In der Tat: falls Ich und Selbst nicht zusammenfallen, dann ist jenes keinesfalls letzte Instanz. Diese Lehren aber erfahren nunmehr eine Präzisierung, die sie zum Teil verwandelt. sintemalen das Ich nie vollkommen sein kann und das wahre Wesen nicht in der Erscheinung, sondern im Sinne liegt, so ist die wahre Aufgabe, mittels des unvollkommenen Ichs, dessen metaphysische Problematik fortan zu sein aufhört, die Vollkommenheit zu realisieren; was nichts anderes bedeutet, als was ich in Spannung und Rhythmus schrieb: dass die Einseitigkeit zum Sinnbild der Allseitigkeit zu vertiefen ist. Ein verwirklichter Typus schließt unter allen Umständen die anderen im gleichen Menschen aus, und jeder ist durch Grenzen definiert, die vom Standpunkt der Vollkommenheit Fehler bedeuten. So haben alle Vorzüge ihre Kehrseite; so ist es dem Menschen unmöglich, wie ja die Kirche von jeher richtig gelehrt hat, auf Erden der Sünde zu entrinnen. Deshalb bedeutet es Missverstehen, hienieden Sündlosigkeit überhaupt als Ziel zu setzen. Nun, wer nach der Vollkommenheit nicht des Ich, sondern allein des Selbstes strebt, strebt überhaupt nicht mehr nach seinem empirisch persönlichen Heil, indem er alle Fehler wenn nicht zu überwinden, so doch zu vertuschen trachtet; der nimmt vielmehr alle Schuld mutig auf sich und erledigt sie dadurch, wie solches Jesus für das Menschheitskarma tat, wie jeder Soldat es tut, der sein Leben einem größeren Ganzen opfert; der ist über alle Egozentrizität hinaus. Der erledigt seine Fehler, indem er den Nachdruck von den Tatsachen auf den Sinn zurücklegt. Von diesem her aber vermag er eben das, was ihm früher immer misslang und misslingen musste: die Tatsachen umzuschaffen. Das Christuswort:

Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird Euch das Übrige von selbst zufallen,

sagt letztendlich nichts anderes, als dass der Sinn den Tatbestand schafft, und er allein. So führt die neue Einstellung nicht etwa zu einer Sanktionierung der Unvollkommenheit — gerade sie leitet deren Überwindung ein. Wie wiederum Christus lehrte: nur wer seine Seele verliert, wird sie gewinnen; nur wer nicht auf das Heil des Ichs bedacht ist, schafft dieses zuletzt zum Gefäß des Göttlichen um. Wer nun seine Unvollkommenheit auf diese Weise überwand, wäre dem traditionellen Europäertypus allerdings absolut überlegen. Den bände nichts mehr von dem, was diesem die innere Freiheit nahm. Der beherrschte Ober- und Unterwelt auf einmal. Der wäre wahrhaft weltüberlegen.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung
© 1998- Schule des Rades
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