Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Ökumenische Spannung und Weltüberlegenheit

Sinnbild der Allseitigkeit

In dieser Instrumentierung, auf deren rein-intellektuelle Komponenten (Troeltsch, Flake, Feldkeller) ich hier nicht zurückzukommen brauche, dürfte Ihnen der wahre Charakter der Symphonie des Lebens, dessen Spannungen sich nie auf anderem Wege lösen, als indem sie in neuen, umfassenderen aufgehen, recht deutlich geworden sein. Aber Sie haben vielleicht zuviel gehört vom Problem überhaupt. Wie stellt es sich jedem Einzelnen von Ihnen? — Dies ist die eigentliche Fragestellung der Schule der Weisheit. Um sie zu beantworten, dazu letztlich haben wir dieses ganze große Orchesterwerk des Geistes aufgeführt.

Als ich die Tagung einleitete, musste ich abstrakt reden. Desto konkreter kann ich schließen. Um die allgemeine Frage für jeden Einzelnen von Ihnen zu beantworten, brauche ich nur an die zwei Vorträge anzuknüpfen, welche unstreitig den Höhepunkt unserer Tagung darstellten — den des Soldaten und den des Rabbiners. Major Muff ist durch und durch Soldat und will nichts anderes sein; das Kriegerethos, die Kriegerehre sind ihm alles. Nach dem Zusammenbruch kam er zu mir, in der Hoffnung, verstehen zu lernen, inwiefern das deutsche Kriegertum versagt hatte, und in welcher Richtung wohl seine mögliche Wiedergeburt lag. Das Ergebnis seiner selbständigen Sinneserfassung — denn ich konnte ihm nur ganz allgemein die Wege weisen — haben Sie gehört. Auch die Antimilitaristen unter Ihnen werden zugeben: es ist möglich, das als solches durchaus bejahte einseitig-bestimmte Sein des Soldaten preußischer Zucht auf den Welt-Sinn zurückzubeziehen und es zum Ausdrucksmittel dieses zu gestalten. Grundsätzlich wissen Sie es ja von der Schöpferischen Erkenntnis her: Fortschritt gibt es überhaupt nur nach innen zu; das Weltalphabet an sich bedarf nie der Änderung; alles kommt einzig darauf an, was man vermittels seiner sagt. Aber ein so eindrucksvolles Beispiel dieser Wahrheit hatten Sie vielleicht doch nicht zu schauen erwartet. In Muffs Gesinnung ist das Ehrgefühl zu Ehrbewusstsein geworden und damit die Kriegerehre zum unmittelbaren Ausdruck des ganzen Lebens-Sinns. Demgemäß hat sich ihm sein Berufsideal zum Ausdrucksmittel des Menschheitsideals vertieft, stellt der Soldat, der seine formelle Pflicht bis auf die kleinste Äußerlichkeit erfüllt, sich ihm als freiester aller Menschen dar … Tieferes wüßte, soweit ich urteilen kann, kein Philosoph zu lehren. — Und nun zum Rabbiner. Auf Leo Baeck kam ich durch den Hinweis eines Abgesandten des orthodoxen Judentums, welcher bei mir anfragte, ob ich nicht auch einmal einen echten Juden reden lassen wollte. Gewiss, hatte ich geantwortet, sofern es einen gibt, der das innere Recht hat, das Alte Testament zu vertreten, jenes ethisch Gewaltigste, das die Menschheit hervorgebracht. Mir ward erwidert, dass es jedenfalls einen solchen Juden gäbe. Sie haben ihn gehört.

Wohl keiner unter Ihnen, der es ernst meinte, blieb unbewegt … Was hat Leo Baeck, im Zusammenhang der Tagung, nun getan? Nichts anderes wie der Soldat: er hat ein als Tatsache Uraltes aus größerer Sinnestiefe neu belebt. Eben damit aber hat er es neugeboren. Ich glaube mich keiner Überheblichkeit schuldig zumachen, wenn ich behaupte: dieser Vortrag bedeutet meiner Ansicht nach eine der wichtigsten Stunden in der Geschichte des Judentums seit Christi Tod, denn wohl zum erstenmal ward außerhalb seines Kreises, von weithin sichtbarer Warte her, der Akzent auf sein schlechthin Positives und dieses allein gelegt — symbolische Handlungen solcher Art aber machen alle Geschichte. Für die Nicht-Juden aber errichtete die gleiche Stunde den einzig wahrhaftigen Wegweiser zum antisemitischen Ziel, sofern dies bejaht werden darf, das heißt zum Ziel, das schlechte Judentum zu überwinden: dies kann nämlich ausschließlich durch den Sieg des guten Judentums gelingen. Den Juden überhaupt aus der Welt zu schaffen, ist ja ein hoffnungsloses Unterfangen: erstens handelt es sich bei ihm um einen ewigen Geistestypus, insofern unabhängig vom Blut. Zweitens ist er typischerweise an Geist dem Antisemiten überlegen. Drittens ist sein Typus gerade unter der Bedrückung erwachsen, weshalb der, welcher ihn verfolgt, ihn in Wahrheit fördert. Doch dies nur nebenbei.

Im Zusammenhang unserer Tagung hat der Rabbiner, wie gesagt, in erster Linie Gleiches gelehrt wie der Soldat: dass es nie aufzuheben gilt, sondern einzig zu erfüllen. Bedenken Sie jetzt die extreme Einseitigkeit der beiden Typen und zugleich die Tatsache, dass diese, obgleich unmittelbar nebeneinander herausgestellt, auf keinen Geistbewussten als feindliche Gegensätze gewirkt haben, so haben Sie schon die Antwort auf die Frage, was jeder von uns tun soll. Wo immer der Nachdruck vom Buchstaben auf den Sinn zurückverlegt wird, verliert die äußere Gegensätzlichkeit ihre Bedeutsamkeit, ist aus dem gleichen Grund die Einseitigkeit als solche überwunden. Auf ihrer eigenen Ebene ist keine zu überwinden. Als Naturprodukt bezeichnet jeder Mensch ein bestimmt begrenzten Gravitationssystem, das in bestimmtem einseitigen Rhythmus schwingt. Wollte er aus diesem ausbrechen, er entrönne zugleich seiner gesamten Ausdrucksmöglichkeit. Hieraus folgt für jeden als erste Forderung, seinen eigenen Rhythmus richtig zu erkennen und sich dann konsequent zu ihm zu bekennen. Der Krieger sei überzeugter Krieger, der Jude Jude, der Deutsche Deutscher, der Europäer — es gibt schon solche — überzeugt einseitig übernational; das Umfassende ist ja als Erscheinung ein genau so Bestimmtes wie das Enge. Jeder tue nicht allein ausschließlich, was er kann, er versuche vor allem nichts anderes darzustellen, als was er wirklich ist. Es bekenne sich jeder rückhaltlos zu seinem beschränkten Dasein, auch wo er die Allheit will, und gerade dann, denn nur schauen lässt sich diese auf einmal — praktisch umfassen nur in der Bewegung von einer Seite her. Nun setzt die zweite Forderung ein: der Einseitige stelle sich richtig ein im Gesamtzusammenhang. Deren Erfüllung ist ihrerseits an die einer dritten geknüpft: jeder trachte den Sinn, der seinem Sondersein zum Lebensgrunde dient, zu erfassen; jeder versuche zu erreichen, was Baeck und Muff gelang. Was gelang diesen nun? Nicht weniger, als die Einseitigkeit umzuschaffen zum Sinnbild der Allseitigkeit.

Sobald eine bestimmte Gestaltung sich als solche ganz verstanden hat und dem, entsprechend, was dann automatisch geschieht, harmonisch im Geisteskosmos einstellt, hat sie nicht relativ, sondern absolut recht. Muffs Ehrbewusstsein kündet unmittelbar vom Sinn der Welt, nicht anders wie im Falle Lao Tses die Metaphysik. Gleiches gilt von Baecks jüdischer Orthodoxie. Auf diese Weise kann jeder seine Grenzen übersteigen. So allein kann es anderseits irgendeiner. Er übersteigt sie nach innen zu. In dieser Dimension allein ist echter Fortschritt überhaupt denkbar; verstehende Bewusstseinsumzentrierung allein führt in die Tiefe des Wesens. Diese aber liegt allemal jenseits der bestimmten Person; wer bewusst in ihr wurzelt, ist zugleich sein Ich und dessen Negativ, die Welt. Daher die Verwandlung aller Ichsucht in selbstloses Ausstrahlen beim Vertieften; dieser vertritt persönlich recht eigentlich den Weltmittelpunkt. Und dementsprechend findet nach außen zu, wie durch ein Wunder, eine Verwandlung aller bisher wirkenden Spannungen und Rhythmen statt. Sobald Einseitigkeit, Gegensätzlichkeit und Feindschaft als selbstverständlich akzeptiert sind, hört deren Problematik auf. Da wird, vom Sinn heraus Widerstreit ganz von selbst Solidarität, wie sie’s von außen her nur unter schwerstem Drucke wird. Da hören alle Probleme der Einseitigkeit zuletzt zu bestehen auf. Sie werden nicht etwa gelöst, sondern erledigt.

Jeder kennt diesen zauberhaften Vorgang vom Bild des Sünders her, den auf einmal die Gnade überkam, und der nun weiß, dass Vergangenheit ihn nicht mehr bindet, mag das Rad des Karma unaufhaltsam weiterrollen. Dieser zauberhafte Vorgang ist aber der einzige Weg, auf dem die Probleme des Lebens überhaupt ein gutes Ende finden können, denn Ausgleich kennt dieses nur als Tod. Über die Einseitigkeit hinaus gelangt der Mensch in jedem Fall nur so, dass er sich innerlich über sie erhebt, dass er ihr überlegen wird, so dass er die Gegensätze, die sich auf ihrer eigenen Ebene nur gegenseitig, in Form der Vernichtung, aufheben könnten, nun kontrapunktiert. In diesem Sinne sagte ich im Eingangsvortrag, dass nicht Aufhebung der Feindschaft Ziel sei, die ja auch ganz unmöglich ist, sondern Befreundung des Feindlichen; nicht Besiegung des Bösen durch Gutes, sondern die Gewinnung eines Zustand des jenseits von Gut und Böse; dass der Idealmensch endlich nicht der vollkommen Ausgeglichene ist, sondern der Weltüberlegene. Genau so steht es mit den Problemen des Gemeinschaftslebens, um deren Lösung heute so bitter gekämpft wird. Ist auch nur eins von diesen lösbar? Nicht eins.

Weder wird die nationale Frage je befriedigend gelöst werden noch auch die soziale in ihrem heutigen Verstand; dies gilt zumal vom Streit zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Aber sie alle werden sich einmal erledigen, insofern sie in Vergessenheit geraten werden gegenüber größeren und wichtigeren. Die Partialprobleme, um die es sich ja bei allen heutigen Gegensätzlichkeiten handelt, im Vergleich zu denen der kommenden Völker-Assoziation, werden zur Bedeutung interner Selbstverständlichkeiten hinabsinken. Vielleicht dient hier ein Bild von ausgesprochener Niedrigkeit am besten. Die Konflikte des Verdauungsapparates wurden noch nie gelöst; in den peristaltischen Bewegungen kommt, von entsprechender Bewusstseinslage aus beurteilt, vielleicht nicht weniger Spannung zum Ausdruck, als sich innerhalb der historischen Welt im europäischen Krieg entlud. Aber nur des Wurmes Bewusstsein wurzelt im Verdauungssystem. So wird eine künftige Menschheit die wichtigsten Probleme dieser Zeit, wie Judenfeindschaft, Völker- und Klassenhass, recht eigentlich als Eingeweideangelegenheiten beurteilen, über die man in gebildeter Gesellschaft zu reden vermeidet. Sie sollen auf ihrer Ebene gar nicht gelöst werden — ihre Ungelöstheit gerade hält den Lebensprozess im Gang. Aber dem Bewusstsein werden sie sich einmal nicht mehr stellen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Ökumenische Spannung und Weltüberlegenheit
© 1998- Schule des Rades
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