Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Geisteskindschaft

Der wahre Mensch

Jetzt dürfte vollkommen einleuchtend geworden sein, dass und warum sich die Frage der Schülerschaft im üblichen Sinn, des normalen Lernens, überhaupt nicht stellt, sobald persönliche Steigerung Ziel ist. Nur lebendiger Geist im Anderen kann das eigene Lebendige fördern. Lebendiger Geist nun ist immer persönlich. Sein einer sachlicher Exponent ist sein persönlicher Stil. Einen anderen gibt es nicht. Wer ursprünglich-persönlichen Geist versachlicht, bringt ihn recht eigentlich um. Nur deswegen fördert allein die Lektüre der Originale großer Geister — Geschichte der Metaphysik zu studieren und sich mit anderen Metaphysikern sachlich auseinanderzusetzen, ist für einen potentiell zu metaphysischem Wissen Fähigen Zeitvergeudung. Er hat persönlich mehr zu werden, seine eigene Tiefe zu erreichen, diese nach außen ausstrahlen zulassen vermittels der vorhandenen Anlagen — ein anderes Problem stellt sich ihm vernünftigerweise nicht.

Ebendeshalb, weil nur das Persönliche geistig zählt, gehen alle ganz großen geistigen Impulse der Geschichte auf gesprochene Worte zurück: deren magische Kraft, noch so wenigen Jüngern eingeflößt, hat jedesmal lebendiger und weiter fortgewirkt als die dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck am vollkommensten rechnungtragende Schrift. Denn die kann jederzeit missdeutet werden; dagegen ist sie wehrlos. Das Persönliche hingegen, wo es wahrhaftig und mächtig genug erscheint, wirkt auch durch oberbewusstes Missverstehen hindurch in seinem Sinne fort. Unter Schriftlichem hat sich das allein, seitdem es Schriften gibt, als unzerstörbare lebendige Kraft bewährt, was im Ausdruck magisch geformt war, und auch hier nur, wo es von kongenialen Geistern gelesen wurde. In diesem Fall erlebte sein originaler Sinn eine originale Wiedergeburt. Der Mensch ist eben gerade als Geist letztlich ein persönlich-Einziges, und es gibt nichts Objektives und Sachliches und Allgemeingültiges, das nicht seinen letzten Sinn im persönlichen sinngebenden einzigen Subjekte hätte. Auf dieses Subjektive kommt letztlich alles an. Dieses subjektiv Einzige allein ist der wahre Mensch. So wie er sich selbst erlebt, so wie er daraufhin gestaltet, strebt, so ist und wird er. Wesensprobleme gibt es ausschließlich in bezug auf ihn. Dies hängt denn letztlich damit zusammen, dass nur der Einzige metaphysische Realität hat. Alles andere gehört dem Werden und Vergehen des Empirischen an. Das gattungsmäßige-Allgemeine ist nicht minder relativ und vergänglich wie alle Erscheinung; vergänglich und letztlich unwesentlich ist deshalb alles Erlernbare.

Mit dem Wissen um seine Einzigkeit aber bricht im Menschen ein Reich der Wirklichkeit durch, das ihn an Unvergänglichem und absolut Wirklichem teilhaben lässt. Dieses absolut Wirkliche ist es, das seinem ethischen, metaphysischen und religiösen Streben allererst Sinn gibt. Denn dieses Streben beruht ja darauf, dass absolute Werte zum Maßstab für das Relative werden — eine paradoxe Situation fürwahr, wenn der Mensch seine wahre Heimat nicht eben in jenem Absoluten hätte. So gelangen wir denn, zum Schluss, zur Erkenntnis, dass der Mensch sich selbst persönlich viel ernster nehmen muss, als je allgemein geschah, so er vorankommen will. Er hat sich in allen Hinsichten so ernst zu nehmen, wie dies das Christentum in bezug auf die unsterbliche Seele verlangt. Denn diese unsterbliche Seele ist er, jetzt und hier. Er ist sie in allem, was er tut. Nur liegt ihre Daseinsdimension nicht im statischen Sein, sondern im unaufhaltsamen Werden. Im Werden im Sinne der Musik. Nur im fortwährenden Neuentstehen aus fortwährendem Sterben heraus dokumentiert sich ihr Sein. Deshalb schließt der Aufruf zum Sich-Selbst-Ernstnehmen zugleich die schärfste Absage an alle Eitelkeit ein, die je gegeben wurde. Nur wer jeden Augenblick bereit ist, seine Seele zu verlieren, d. h. alles bisherige und gegebene Dasein preiszugeben, nur wer nie dafür kämpft, gegen Andere, was er ist, sondern nur dafür, mit sich, was er einmal werden kann, nur der ist auf der rechten Bahn.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Geisteskindschaft
© 1998- Schule des Rades
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