Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Ökumenische Spannung und Weltüberlegenheit

Wind und Blitz

Hier wären wir denn, von lebendiger Anschauung gesättigt, beim Grundergebnis des Einleitungsvortrags, dass es keine Spannungen zu lösen, dagegen alle besonderen in eine ökumenische Spannung überzuführen gilt, wieder angelangt. Jetzt wird Ihnen zugleich wohl klar geworden sein, weshalb wir dieses ganze große Orchesterwerk des Geistes vor Ihnen aufführten, wo es der Schule der Weisheit letztlich um den Einzelnen zu tun ist: Sie haben es jetzt unmittelbar erlebt, wie richtige Einstellung in den Gesamtzusammenhang jede Einseitigkeit zum Sinnbild der Allseitigkeit umbildet, wie Zentrierung des Bewusstseins im Sinn jede Gestaltung in ihrem unveränderten Sosein heiligt einerseits, und anderseits die Konflikte der Oberfläche erledigt. So eingestellt, widersprechen sich Soldat und Rabbiner nicht; so würden sich auch Katholik und Protestant, Individualist und Sozialist nicht widersprechen, sondern im Zusammenklang als kontrapunktische Ergänzungen wirken. Unsere Tagung hat Ihnen also recht eigentlich ein Gleichnis der Welt, wie sie sein sollte, vor Augen geführt. Aber die Schule der Weisheit ist kein Theater. So schön unsere Aufführung war — sie war nicht Selbstzweck. Sie hätte ihren Zweck vielmehr vollkommen verfehlt, wenn sie nicht jedem von Ihnen, oder doch möglichst vielen, den Antrieb einbildete, das Erschaute nun persönlich, für und bei sich, zu verwirklichen. In der Einleitung zur Tagung führte ich mit etwas anderen Worten aus, dass die Schule der Weisheit weniger eine Anstalt zur Erkenntnisvermittlung, als eine Kraftquelle bedeutet; sie hat die praktische Heranbildung des weltüberlegenen Menschen zum Ziel. Und ich wies darauf hin, dass dessen Betätigung vom Standpunkt des konsolidierten alten Zustandes unbedingt als Störung wirken muss, desto mehr, als ja der Weltüberlegene, gegenüber dem Normalmenschen, nicht den Ausgeglichenen darstellt, sondern den Verkörperer eines höheren Spannungsgrades.

Heute sei noch das Folgende hinzugesagt, was Sie jetzt kaum mehr missverstehen werden. Der Mensch, den wir heranbilden, wird störend wirken, ja der heutigen Mehrheit ein ständiges Ärgernis bedeuten, gerade insofern er weise ist. Die Chinesen, welche von Weisheit mehr verstehen als irgendein Volk, bezeichnen den Weisen durch eine Kombination der Ideogramme für Wind und Blitz: weise sei nicht der abgeklärte alte Mann, welcher alle Illusion verlor, sondern der dem Wind gleich unaufhaltsam vorwärts stürmt und an keiner Station zu fassen ist; welcher dem Blitz gleich die Luft reinigt und, wo es gerade nottut, einschlägt. So, nicht anders hat der historisch zu wirken, in welchem unser Impuls lebendig ward. Er soll als Träger der ökumenischen und als solcher der bisher höchsten verwirklichten Spannung wirken inmitten des Gekräusels dieser Zeit. Da aber kommt es auf jeden Einzelnen an. Äußerlich aufgefasst, versteht sich dieser Satz von selbst: wo eine kleine Minderheit sich zur Eroberung anschickt, darf freilich keiner passen. Doch hat er einen noch tieferen Sinn, und aus seiner Erkenntnis heraus wendet sich die Schule der Weisheit an erster und letzter Stelle nicht an die vielen, sondern an den Einzelnen. Woher kommt es, dass aller, schlechthin aller Fortschritt auf Erden von Einzelnen ausging? Weil jeder in seinem Bewusstsein bis zum Selbst Vertiefte die Angel darstellt der Welt. Einseitigkeit als solche ist unüberwindlich. Die Konflikte der Oberfläche sind auf eigener Ebene unlösbar, denn nur endgültiger Ausgleich, d. h. Tod könnte hier Lösung bedeuten, weshalb die Vorstellung irgendeines Endsiegs dank äußerer Machtentfaltung grundsätzliche Selbsttäuschung bedeutet; die absolute dauernde Übermacht wird keine Partei je erringen. Doch der äußerlich schwächste Einzelne, der sich so weit vertiefte, dass sein Sondersein ihm zum Ausdruck wurde des kosmischen Ganzen, verfügt über dessen überempirische Macht. So genügt der Druck auf einen einzigen winzigen Punkt eines geschlossenen Kräftesystems, um dessen Gesamtheit umzustellen und die vorhandenen Spannungen in neue überzuleiten.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Ökumenische Spannung und Weltüberlegenheit
© 1998- Schule des Rades
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