Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Liebe und Erkenntnis

Gefühl der Liebe

Es ist eins der interessantesten aller historischen Phänomene, dass die Liebe je auf christliche Art zum höchsten Wert erhoben werden konnte. Der indische und chinesische Osten hat den vollen und wahren Wert der Liebe seit Urzeiten gekannt. Nie aber hat er sie zum Höchsten im Gegensatz zu allen anderen Werten gestempelt und nie, vor allem, dem Missverständnis Vorschub geleistet, als sei das Gefühl der Liebe an sich schon wertvoll. Denn dieses Missverständnis läuft, so wie die meisten Menschen nun einmal sind, auf eine Apotheose einer bestimmten Form von Selbstsucht, wenn nicht bei sich, dann desto mehr bei Anderen, hinaus. Die besondere christliche Sinngebung, nicht zwar wie sie letztlich gemeint war, desto mehr jedoch, wie sie allgemein verstanden wurde, hat, in der Tat, rein historisch-psychologische Ursachen. Die Antike war in einem Grade hochmütig und lieblos gewesen, wie keine andere uns bekannte Welt vergleichbarer Kultur. Dieselbe Hartherzigkeit, die sich heute in Ausbeutung, Kapitalherrschaft und Imperialismus überhaupt, und am schlagendsten — so schlagend, dass ich darin eins der großen Sinnbilder aller Zukunft sehe — in der unmenschlichen Behandlung Deutschlands von Versailles bis Genf geäußert hat, kam damals in der Lebensauffassung aller antiken Freien und Herrschenden zum Ausdruck. Bei dieser Hartherzigkeit handelt es sich ganz offenbar um eine besondere westliche Naturanlage. So bedeutete es etwas Unerhörtes, als im Herrschaftsbereich des Römertums und gar unter römischen Bürgern plötzlich gepredigt ward, der Besitz von Liebe sei wertvoller als alles andere auf der Welt; diese frohe Botschaft konnte nicht umhin, eine einzigartig werbende Kraft auszustrahlen. Alle Unterdrückten nicht allein, nein, vor allem alle denkenden und fühlenden Unterdrücker mussten auf die Dauer gewonnen werden, denn gemäß psychologischem Grundgesetz wütet der Grausame vor allem gegen sich selbst. Diese wesentlich kompensatorische Bedeutung der Rezeption der christlichen Liebes-Idee erklärt denn weiter, warum sie nie tatsächlich herrschend wurde und warum die christlich gewordenen Herrschenden sich nie, jedenfalls nie dauernd, ein Gewissen daraus machten, in ihrem Alltagsleben unchristlich zu handeln: dieser Komplex der Seele musste nur überhaupt abreagiert werden, und zwar in einer Form, die die Gesamtnatur ertragen konnte. Aus diesem Grunde waren gerade individuell Grausame und klassenmäßig Militärs von Anfang an die überzeugtesten offiziellen Christen.

Wie denn zu den Zeiten schlimmster kapitalistischer Ausbeutung wiederum gerade die Industriekapitäne besonders gute Christen waren, was im Großen vom Ausbeutervolk par excellence, den kolonisierenden Angelsachsen gilt. Unter diesen Umständen ist es alles eher als verwunderlich, dass die farbigen Völker den Christen gerade Mangel an Liebe vorwerfen und sich gerade in dieser Hinsicht den Weißen überlegen fühlen. Damit ist natürlich über den Wert der christlichen Liebe an sich nichts entschieden. Allerdings aber ist wahr, dass die Akzentlegung gerade auf die Liebe, so wie deren Begriff banal verstanden wird und wie er sich historisch bewährt hat, nur ein psychologisches Phänomen ist ohne Wertbestimmtheit. Zeiten, die nichts von der Liebe als dem Einen, was nottut wussten, Männer, die persönlich keine Liebesgefühle hegten oder in sich bejahten, haben wieder und wieder die gleiche und höherwertige Liebe bewiesen als die besten Christen. Sicher stand Marc Aurel, in seiner Ressentimentfreiheit, hoch über den meisten Christen seiner Zeit. Und neuerdings war Nietzsche, der offizielle Feind des Christentums, eine reinere und liebereichere Seele als wohl alle seine Widersacher. Diese Reinheit ist die wahre Ursache des Hasses, den er zunächst herausforderte; überdies aber die gefühlte Wahrheit seiner Behauptung, dass mit dem Christentum zunächst in einer sehr großen Anzahl von individuellen Fällen und, historisch betrachtet, möglicherweise durchaus niedrige Gesinnung über höhere siegte. Das an sich Höchste mag ja jederzeit niedrig verstanden werden. Was die meisten Frühchristen außerhalb des Kreises der Urgemeinde zusammenschloss, war zweifelsohne ein Analogon der wesentlich ressentimentbedingten Solidarität der Proletarier, die unter sich wirklich viel Liebestugend beweisen, anderen gegenüber jedoch gar leicht eine Herzlosigkeit, welche die der antiken Herrenschichten — man denke an das Russland der Arbeiter und Bauern — noch übertrifft. Was aber das früheste Christentum der Privilegierten betrifft, so handelte es sich hier typischerweise um ein ähnliches wie beim Rousseau-Kult der vornehmen Franzosen des 18. Jahrhunderts: es äußerte sich darin der Todeswille einer sterbenden Zeit.

Jesu sublime Botschaft wurde also im Großen vor allem in Funktion bestehenden Ressentiments, sozialer Ambition und Todeswillens verstanden. Ähnlich beruhte die Werbekraft des Buddhismus und Islam in Indien vor allem darauf, dass die zu ihnen Bekehrten ipso facto aus dem Kastensysteme entlassen und zu gleichberechtigten Brüdern aller Gleichgesinnten wurden. Als nun das Christentum zur Herrschaft gelangt, als aus dem Häßlichen ein neues Schönes geboren war, da manifestierte sich Jesu wahre Intention entsprechend reiner. Doch sehr bezeichnenderweise trat damit die Auffassung der christlichen Liebe, die ihren historischen Sieg bestimmt hatte, zurück. Das Mittelalter hielt rein nichts vom größten Glück der größten Zahl. Ihm bedeutete Liebe durchaus nicht allgemeine Weltbeglückung. Auch das empirische Wohl des Einzelnen war ihm nicht letztes Ziel. Erst in der Neuzeit wird die Liebe wieder ähnlich verstanden, wie zu Beginn unserer Ära, nur jetzt meist losgelöst von aller christlichen Ideologie; dies dürfte wohl abschließend beweisen, um ein wie Ungeistiges es sich bei der Liebe handelt, welche die Meisten meinen.

Heute bedeutet Liebe, so wie die Millionen den Begriff verstehen, extrem ausgedrückt, Sinn für Komfort der Anderen und Anerkennung dieses als höchsten Werts. Ihr Begriff sanktioniert die Trägheit. Als ein Mitarbeiter von mir eine dringend notwendige Arbeit einmal termingerecht nicht fertigstellen konnte und ich ihn drängte, da lief er, ehrlich entrüstet, von Pontius zu Pilatus, darüber klagend, er fände nicht genug Liebe; mit diesem Ausspruch wähnte er den Anspruch geistiger Pflicht zu erledigen. So gilt heute in der Regel der als liebevoll, der es den Anderen gemütlich macht, und der als lieblos, der ihre Kreise stört. Mit vorbildlicher Klugheit nutzen viele Führer der Kirche diese Lage zu ihren Gunsten aus; sie legen allen Nachdruck auf Statik. Friede und Glück seien die schlechthin höchsten Ziele; wer überhaupt ein Ärgernis bereitet — und das tut zwangsläufig jeder, welcher die Trägheit stört —, beweise eben dadurch unchristliche Gesinnung. Diese Auffassung hat nun Jesus selbst so ausdrücklich desavouiert, dass nicht ich erst den Nachweis zu erbringen habe, dass solche Liebe keine echte Liebe bedeutet. Jesus brachte bewusstermaßen nicht den Frieden, sondern das Schwert. Er rief den Sohn gegen den Vater, den Bruder wider den Bruder auf. Er gebot Weib und Kind zu verlassen. Er hielt nicht das Mindeste vom Erdenglück, erhoffte alles Heil vielmehr von dessen Ende. Also ist mit der Anerkennung des Wortes Liebe als höchsten Werts über den gemeinten Sinn nicht das Geringste präjudiziert. Auf diesen allein nun aber kommt alles an. Das lehrte wiederum Jesus schon ausdrücklich, indem er auf den guten Willen allen Nachdruck legte. — Diese kurzen Betrachtungen dürften wohl genügen, um unsere prinzipielle Bemerkung über das Schicksal der Worte so weit zu erläutern, dass ihr Sinn einleuchtet, und zugleich die Erkenntnis nahezulegen, dass es heute einen Fehler bedeuten kann, gerade von Liebe zu reden, wo man Christus-Liebe meint.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Liebe und Erkenntnis
© 1998- Schule des Rades
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