Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Das religiöse Problem
Hingabe an das Nichts
Doch nun zurück zur Frage Pathos-Ethos. Das Pathos der Religion gehört einer anderen Dimension an als jedes andere Pathos. Dass es in der Erscheinung oft ähnliche Gestalt annimmt, wie anderes Pathos, beruht auf dem Korrespondenzgesetz. Ist auf der Naturebene Hingabe an deren selbsttätigen Prozess das der Selbstbetätigung entsprechende Minus, so ist es auf jener die an die kosmische Fügung — und der Ausdruck beider so ganz verschieden gerichteten Formen des Erleidens muss wohl in Anbetracht des beschränkten Weltalphabets der gleiche sein. Gegenüber Gott wird Demut verlangt; diese bedeutet nichts anderes als pathisches Verhalten: insofern letzteres vom Liebenden gilt, beweist auch er dem Geliebten gegenüber Demut. Das religiöse Pathos ist nun tatsächlich des Menschen allerletzte Instanz. Wie er nach unten zu, auf der Natur-Ebene, durch deren Prozess gebunden ist, den er nicht aufhalten noch ändern kann, so ist seine Freiheit nach oben zu nicht letztentscheidend. Dies beweist die Erfahrungstatsache, dass, wer immer dies verkannte, so oder anders im Sinne Luzifers geendet ist. Gewiss lässt sich dieses Jenseits des persönlichen Ich zunächst auf die verschiedenste Weise deuten. Man mag beim Groddeckschen Es stehenbleiben, ja sogar beim Unbewussten
der orthodoxen Psychoanalytiker. Doch von unserer Fragestellung aus, die die primäre Intention zu bestimmen unternimmt, kommt es auf die Deutung vorläufig nicht an. Für uns entscheidet zunächst die Tatsache, dass der tiefe Mensch ein seinem Ich in einem anderen Sinn als dem der äußeren Natur Übergeordnetes anzuerkennen nicht umhin kann.
Für das typisch-religiöse Bewusstsein erscheint in diesem Sinne wesentlich, dass ihm nicht der Mensch, sondern ein Höheres das eigene Subjekt ist. Deshalb herrscht hier das Gesetz nicht der Verdienstes, sondern der Gnade. Und dies gilt nicht allein für den Christlich-Religiösen, sondern genau so für den Buddhisten und Konfuzianer. Beide lehrten explizite nur Ethos. Doch eben dieses Ethos führte bei diesem zur Hingabe an die kosmische Ordnung, bei jenem, wie bei Lao Tse, wörtlich beurteilt, zu Hingabe an das Nichts. Letztere scheinbar befremdliche Bestimmung macht nun besonders deutlich, was eigentlich gemeint ist: die reine Hingabe an das Jenseits des Ich. Denn eben diese erfolgt in der Meditation. Und dieses Jenseits ist in Funktion des Ich, von dem alle Begriffsbildung ausgeht, nicht mehr bestimmbar. Es handelt sich beim Metaphysisch-Wirklichen also, vom Ich aus betrachtet, wirklich um ein Nichts, woraus wieder einmal die ungeheure Kritikerschärfe von Buddhas Denken hervorleuchtet und andererseits verständlich wird, warum bestimmt veranlagte Menschen das Metaphysische nicht etwa nur anzweifeln, sondern positiv leugnen. Wir stellten vorhin fest, dass der Osten ein eigentliches religiöses Problem nicht kennt, weil die Wirklichkeit des Metaphysischen sich für ihn von selbst versteht. Deshalb hat er keinen Luzifer-Mythos hervorgebracht; deshalb weiß er von keinem Sündenfall und auch von keiner Sünde, die nicht Vergebung fände. Nichtsdestoweniger gilt der Osten als Prototyp der Religiosität. Dies beruht eben auf seiner primär pathischen Einstellung gegenüber geistigen Mächten. Nur in solcher ist religiöses Erleben überhaupt möglich.
Aber Pathos war auch zu aller Zeit das letzte Wort des Westens, soweit er religiös war. Hat er keine hohe Religion hervorgebracht, so lag dies daran, dass dessen wesentlich weltzugekehrten und weit mehr ethisch als pathisch begabten Bewohner den letzten Geistesgrund der Welt nur in Ausnahmefällen persönlich realisierten. Die tragische Grundgesinnung des frühen nordischen Menschen beruhte auf letztinstanzlichem Glauben an ein dunkles Schicksal, über dessen Urgrund und Komponenten er nie zur Klarheit gelangte. Und auf echtem Pathos beruhte sogar die Römerreligion: erscheint diese den Meisten bis zur Groteskheit flach, so liegt dies daran, dass es ihnen unmöglich ist, sich in die Seelenart eines so empiristischen und positivistischen Volkes, wie es auch noch die heutigen Italiener sind, hineinzuversetzen. Um die Religiosität der Römer und Italiener zu verstehen, muss der Deutsche den Umweg über Japan machen. Des Japaners Tiefstes ist, seiner Anlage nach, der Patriotismus. Der ist entsprechend in einem Grade tief wie sogar bei keinem Franzosen. Im übrigen aber ist der Japaner so ganz verkörpert in dieser Welt, dass er Metaphysisches an sich nicht erleben kann. Sehr ähnlich stand und steht es mit den Italienern. Der Fascismus ist heute eine richtige Religion, nur eben in römischem Sinn. Die Italiener und Römer sind vom Standpunkt der übrigen Europäer kein religiöses Volk; so gab es niemals Religionskriege unter ihnen. Aber unbewusst religiös sind die Italiener eben doch; nur eben in politischer Verkörperung. Deswegen bekennen sie sich so sehr zur individuellen Freiheit in der Hingabe an die Res publica im Gegensatz zum deutschen Pflichtgefühl.
Nun können wir uns erklären, warum das Pathos der Religion schlechthin unsterblich ist, warum irreligiöse Zeiten immer wieder, trotz alles geistigen Fortschritts, in neue religiöse einmünden, warum es nie absolut irreligiöse Zeiten gab, sondern nur Individuen und allenfalls soziale Klassen, die aber dann jedesmal, so oder anders, ein Ende darstellten. Allerdings bezieht sich das Behauptete nicht nur auf keine bestimmte Konfession, sondern nicht einmal auf den Gottesglauben. Ja es bezieht sich nicht einmal auf Religiosität im heute üblichen Sinne überhaupt, wovon in einem späteren Abschnitt des Näheren gehandelt werden wird. Zur vorläufigen Verdeutlichung sei an die diesbezüglichen Gedankengänge in Jesus der Magier
erinnert, die nur dahin ergänzt seien, dass solche Religiosität nicht nur mit dem Primat des Erlebens gegenüber dem Leben, sondern auch dem der Gefühlssphäre steht und fällt; wer auf geistigem Wege zum Absoluten in persönlicher Beziehung steht, den heißt man heute einen Metaphysiker, in bewusster Gegenstellung zum Religiösen. Wie denn vom christlichen Standpunkt alle indischen religiösen Genies mit der einzigen Ausnahme derer, die sich so oder anders zum Emotionalismus bekannten (die Bhaktis, Vaishnava-Sekten usw.), allen voran also Buddha, nur
Metaphysiker waren. Aber das Ewig-Wirkliche der Religion hat eben grundsätzlich nichts damit zu tun, wie sie verstanden wird: es beruht ganz und gar auf der Wirklichkeit ihres Gegenstands und der grundsätzlichen Beziehung des Menschen zu ihm, nicht der Sonderart ihrer Aktualisierung; letztere hängt allemal von empirischen Zufällen ab. Es beruht an erster und letzter Stelle darauf, dass der Mensch als geistiges Subjekt sich selbst nicht letzte Instanz ist.
So ist der Buddhismus, trotz seiner antimetaphysischen Einstellung und seiner Anatta-Theorie eine viel echtere Religion als alle Naturreligion: denn mit vollendeter Klarheit behauptet er die Wirklichkeit eines vom objektiven Naturzusammenhang wesensverschiedenen transsubjektiven Zusammenhangs, in den die aus eigenem Recht lebenden Iche hineingehören. Daher die ungeheure Wirkung des Buddhismus. Zum Verständnis dessen, inwiefern das geistige Subjekt sich selbst nicht letzte Instanz ist, leisten die Forschungsergebnisse C. G. Jungs jedem befangenen Modernen allerdings gute Dienste, denn sie sprechen die Wahrheit in einer ihm verständlichen Sprache aus: es lässt sich beweisen, dass das Ich psychologisch nicht letzte Instanz ist; es lässt sich beweisen, dass es sich bei dem, was wir Gott heißen, zum Mindesten um ein psychologisch Wirkliches handelt; es lässt sich endlich beweisen, dass jede Möglichkeit fehlt, ein psychologisch Wirkliches als absolut unwirklich zu erweisen.
So viel zur ersten Bestimmung. Das Ewige an der Religion beruht nun zweitens darauf, dass nur pathische Einstellung das Ich mit diesem Jenseits verbindet. Den schnellsten Verständnis-Zugang zur historisch erweisbaren Notwendigkeit der Sonderart pathischer Einstellung, die man Religiosität heißt, schafft eine Meditation, welche die religiöse Polarität Mensch-Gott mit der empirischen von Pathos und Ethos zusammenschaut, welche Zusammenschau wegen des Korrespondenzgesetzes ohne Gewaltsamkeit gelingt. Alleinbetonung des Ethos auf der empirischen Ebene verdürftigt, denn sie schnürt die Geist-Seite des Lebens vom Vitalen ab; der mögliche Vollmensch bildet sich, dank ihr, zum dürren Intellektualisten oder flachen Moralisten zurück. In Korrespondenz damit liegen die Dinge in der ganz anderen Dimension des Transsubjektiven folgendermaßen: Bekennt der Mensch sich zu sich selbst als Mensch allein, was wieder Alleinbetonung des Ethos bedeutet, dann löst er sich vom Geisteskosmos ab und verleugnet alle Mächte, die jenseits des Ich ihren Sitz haben. Dies führt ihn, als Könner, zum Verlust aller Schöpferkraft, als Sein zu letzter Verödung und Vereinsamung. Sein Leben muss ihm letztlich sinnlos vorkommen. In allen Richtungen und Hinsichten grinst ihm als letztes das Gespenst des Todes entgegen.
Von hier aus versteht man denn, was die Idee der Gnade, sobald ihr Sinn auch nur geahnt wurde, der sterbenden Antike bedeutet haben muss, was das Gnadenerlebnis zu allen Zeiten immer erneut allen denen bedeutet, die so oder anders luziferisch waren: der Vereinsamte fühlt sich nunmehr geborgen, der tragische Kämpfer selig, der Todgeweihte des ewigen Lebens teilhaftig. Er hat eben die Religio an das Unsterbliche gewonnen. Und dieser bedarf der Mensch desto mehr, je potenzierter er Mensch ist: je gewaltigerer Leistung er fähig, desto mehr erlebt er deren letzte Sinnlosigkeit, denn der zeitliche Tod lässt eben alle Leistung letztlich sinnlos erscheinen. Gerade Höchstentwicklung des Ethos fordert insofern eine entsprechend starke Betonung des religiösen Pathos. So erklärt es sich, dass alle großen Männer der Tat in irgendeiner Form religiös waren. Waren sie es nicht von Hause aus, so wurden sie es. Gerade wer die letzte menschliche Verantwortung auf sich nimmt, muss kompensatorisch irgendwie an Vorsehung glauben, wenn er sein inneres Gleichgewicht nicht verlieren will. Nur der von Hause aus irgendwie pathisch Eingestellte verträgt es psychologisch, in diesem weitesten Verstande irreligiös zu sein. Dies ist der wahre Grund der so häufigen Freidenkerei
von Denkern und Künstlern sowie die solcher Zeiten, die mehr reflektierten als handelten, wie das 18. Jahrhundert. Der Pathiker in diesem empirischen Sinn wird ohnehin mehr gelebt, als dass er selbst lebt; sein Element sind Erlebnisse und Einfälle, die er hinnimmt, nicht bewusste Entscheidungen. Deshalb bedarf er psychologisch keiner geistigen Minus-Seite zur Kompensation. Hier hängt es allein von seinem unmittelbaren metaphysischen Bewusstsein ab, ob er religiös ist oder nicht. Aber diese psychologischen Gründe entscheiden ihrerseits nicht letztlich. Wäre es so, dann könnte es sich beim Objekt aller möglichen Religion um ein Konstruiertes im Sinn der Psychoanalyse handeln. Alle Menschheitserfahrung lehrt jedoch mit vollendeter Einstimmigkeit, dass es unbedingt und absolut real ist.