Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Das religiöse Problem
Gesetz der Einmaligkeit
Inwiefern der empirische Mensch sich selbst nach innen zu — also in der Dimension, die, im Bilde gesprochen, zur Natur-Wirklichkeit senkrecht gerichtet verläuft — nicht letzte Instanz ist, dürfte jetzt wohl soweit verständlich geworden sein, als Überempirisches überhaupt dem, der es nicht von sich aus erlebnismäßig weiß, verständlich zu machen ist. Was es indessen mit dem Wirklichen, das alle Religion meint, für eine Bewandtnis hat, wird niemals objektiv festzustellen sein. Das Logos-Prinzip entspricht auf geistigem Gebiet dem Männlichen; die bestimmte Wirklichkeit ist immer Eros-erschaffen und irrational. Es wurde keine neue Religion je gemacht, sondern immer nur geboren, und zwar offenbart sie sich als geborene Wirklichkeit desto mehr, je spermatisch-männlicher ihr Initiator war. Dieser hinwiederum, als Logos spermatikós, lehrte nie eine bestimmte Religion1. Wohl muss jede bestehende Religion die Ergebnisse der Sinneserfassung anerkennen, denn auf diesem Gebiet ist der sinngebende Mensch die letzte Instanz. Insofern sind bestimmte religiöse Vorstellungen allerdings zu widerlegen. Aber andererseits hat die Sinneserfassung vor dem irrational-Wirklichen an sich in Ehrfurcht Halt zu machen. Unter keinen Umständen ist die Weisheit befugt, über Nicht-Erkenntnismäßiges zu Gericht zu sitzen.
Der Lebende und Erlebende hat hier gegenüber dem Versteher das letzte Wort. Leuchtet eine irrationale Religion einmal einer Mehrzahl ein, so muss dies triftige nichtrationale Gründe haben, über welche keine Ratio kompetiert. Hier bietet wiederum Jungs Psychologie das bisher gangbarste Tor zum Verständnis: Neugeburten eines Geistigen erfolgen allemal in Form eines irrationalisierbaren vereinigenden Symbols. Ist seine Wirkung durchschlagend, wie es die der christlichen in so außerordentlichem Grade war, dann muss unter allen Umständen lebendigste Wirklichkeit dahinterstehen. Solange eine Kirche dieses Symbolmaterial einleuchtend und belebend zugleich zusammenfasst, hat auch sie unter allen Umständen eine lebensnotwendige Aufgabe. Im Übrigen aber ist über die wahre Bedeutung der Kirche, über das in Die geistige Menschheitseinheit
und Der letzte Sinn der Freiheit
Ausgeführte hinaus das Folgende zu sagen. Zunächst hat sie dieselbe Funktion, wie auf profanem Gebiet die Tradition: d. h. sie erspart es dem Individuum, jedesmal von vorne anzufangen; sie stattet ihn von Hause aus mit dem lebendigen Geistes-Erbe aus. Überdies bewahrt sie, als einheitlicher Organismus, dieses Erbe vor der Zersplitterung. Dieses Beides ist nicht wenig, sondern ungeheuer viel. Nicht jeder ist fähig, von sich aus alles das wiederzuentdecken, was seine Vorfahren erarbeiteten; unter allen Umständen wäre es Zeitverlust. Auch nicht jeder ist erfinderisch oder auch nur tief.
So können dank bestehender autoritativer Tradition — hier wurzelt der wahre Sinn des Autoritätsgedankens — sogar solche an der tiefsten Wahrheit teilhaben, die sie persönlich nicht einmal verstehen können, und die Wahrheit wirkt sich alsdann in den Seelen, diesen unbewusst, doch günstig aus.
Traditionelle Bindung nimmt andererseits niemand die Möglichkeit freier Entscheidung. Grundsätzlich kann jeder jeden Augenblick jede Bindung von sich werfen. Vermag er es nicht, so war seine Freiheit nicht der Rede wert. Denn Freiheit wirkt unter allen Umständen von gegebener Basis aus. Die Weisheit der Jahrtausende ist nun immer weiser als alle nicht außerordentliche Sondererkenntnis und Einzeltat. Und besteht keine feste Tradition, so gelangt keiner über den Urzustand hinaus. Was nun aber den zweiten Punkt betrifft, dass eine einheitliche Kirche vor Zersplitterung des Geisteserbes bewahrt, so hat gerade dieser sich in der ganzen Geschichte immer wieder als von äußerster Wichtigkeit erwiesen. Nur dank der Kirche gewannen minderwertige Lehren nicht wieder und wieder in der Christenheit die Oberhand — denn die Straße läuft ja am liebsten Minderwertigem nach. Ja, ich persönlich stehe nicht an, die meisten Einzel-Sekten, die allein bestehen wollen, nicht viel anders zu beurteilen, als es die katholische Kirche tut. Allein halte jeder es, wie er muss. Aber will er überhaupt Gemeinschaft, was immer Transponierung des Metaphysischen ins Kollektiv-Psychologische bedeutet, dann kann nur größtmögliche Weite vor Kleinlichkeit und Engigkeit bewahren. Alle nur möglichen christlichen Gemeinschaften sollten sich der Idee der einen und einigen Kirche unterordnen, die sich freilich ihrerseits so umorganisieren müsste, dass wirklich für alle ihre möglichen Kinder in ihr Raum wäre. Ob dies so kommen wird, ist allerdings fraglich.
Die Idee der Kirche ist ewig wahr — aber wie es sie als Tatsache nicht immer gab, so mag es wohl sein, dass es sie nicht immer geben wird, wenigstens nicht im Sinne der Bedeutsamkeit. In der Geschichte regiert das Gesetz der Einmaligkeit. Immerhin: solange es die Kirche gibt, bleibt richtig, was wir über sie schrieben, auch wo sie sich längst nicht allen Ansprüchen, die man billigerweise an sie stellen darf, gewachsen erweist. Und viel Einsicht ist innerhalb aller Konfessionen heute am Werk, um nicht nur Missstände abzustellen, sondern auch einen absolut besseren Allgemeinzustand herbeizuführen, als es ihn bisher gab. Und da müssen die, in denen das Prinzip der inneren Freiheit gegenüber der Gebundenheit vorherrscht, sehr generös sein. Es ist wahre Begnadung, innerlich frei sein zu dürfen. Wer überhaupt innerhalb von Name und Form gebannt ist, unterliegt auch dem Zwang der Formgesetze. Die religiösen Formen haben ebensosehr ein Eigenleben mit davon abhängiger spezifischer Gestaltung, wie die Formen des Rechts und die der organischen Natur. Da ist oft wenig zu ändern, wenn man die Form überhaupt anerkennt. Und erkennt man sie nicht an, so verleugnet man gar zu leicht, ohne es zu wollen, alle Tradition, mithin das, worin der eigentliche Wert der Kirche überhaupt besteht. Endlich: wer wollte wohl je entscheiden, welche Kirchenlehre, die psychologisch und erkenntniskritisch Unbegreifliches betrifft, nun sachlich richtig sei? Sinn offenbart sich in der Erscheinung nie anders als mittels vorhandener Ausdrucksmittel.
Diese liefert ihm jeweils der persönliche und kollektive Seelenzustand. Darum überkam religiöse Erleuchtung bisher jeden im Rahmen seines vorherbestehenden Glaubens — außer in Wendezeiten, wo neue Religion schon im Entstehen war. Das klassische Beispiel zu letzterem bietet Paulus, in zweiter Linie Luther. Über den absoluten Wert kann auf die Dauer allenfalls das historische Experiment entscheiden. Aber insofern lässt sich allerdings einiges Grundsätzliche sagen. Zunächst was die konfessionelle Frage betrifft: da ist, vom Standpunkt reiner Religiosität, die katholische Einstellung zweifellos sinngemäßer als die protestantische, denn sie allein ist wirklich reines Pathos gegenüber der Übernatur. Wohl betonte Luther die verdienstlose Gnade stärker noch als irgendein Katholik, doch dies war bei ihm Überkompensation. Calvin hinwiederum übersteigerte den Bewährungsgedanken so sehr, dass seine Wirkung luziferisch werden konnte. An ihren Früchten erkannt, hat die protestantische Einstellung wohl den ethischen Menschen vorwärts gebracht, indem sie ihn seiner Freiheit bewusst werden ließ, nicht jedoch den religiösen vertieft. Denn gerade dort verlangte sein Geist grundsätzlich freie Entscheidung, wo einzig Hingabe frommt und jede Hingabe besser ist als keine. — Zweitens steht der Katholizismus gegenüber dem Protestantismus in grundsätzlicher Vorzugsstellung, als überhaupt objektivierter Glaube gelten soll; nur, wo dies nicht der Fall, hat der Protestant den inneren Vorsprung. Denn ein objektivierter Glaube bedeutet immer Verkörperung des Sinns in kollektiver Erbweisheit, und diese kann nie reich genug sein. Da ist der Protestant ganz einfach ärmer als der Katholik. Und scheint die Welt heute wieder katholisch zu werden, nämlich in dem einzigen Sinn, der, wie in Die geistige Menschheits-Einheit gezeigt ward, für eine bessere Zukunft der Kirche überhaupt in Frage kommt, so bedeutet das nichts anderes, als dass die Mehrheit der religiösen Menschen zu erkennen beginnt, dass es ein Unsinn war, auch nur einen Teil des Menschheitserbes zu verleugnen.
Eben in diesem Sinn ist auch die Repaganisierung dieser Zeit, zum Teil wenigstens, zu verstehen. Auch das heidnisch-klassische Erbe birgt ewig-gültige Werte, die, gemäß dem Gesetz der Einmaligkeit und Einzigkeit, nur eben in antiker Haltung realisierbar sind. Ebendeshalb greifen wir heute sogar auf die Urlehren der Magie zurück. — Nun aber zur Frage bestimmter Religion überhaupt. Da dürften wir behaupten, ohne Furcht, von der Geschichte widerlegt zu werden, dass, wenn einmal Religion in dem Verstand, wie wir Christen das Wort Religion verstehen, das letzte Wort möglicher Beziehung zum Absoluten sein soll, das Christentum über allen Religionen steht. Das Christentum allein nämlich steht erstens rein pathisch da, ohne ethische, gar politische Komponenten. Dann bezieht sich sein Pathos allein ausschließlich auf das geistige Jenseits. Zu viele ethische Bestandteile hatte das Judentum. Es glaubte an einen im irdischen Sinn gerechten Gott. Es akzeptierte die Tragödie nicht. Die Passion war und blieb ihm ein Ärgernis. Es verzichtete auf das Unmögliche, hielt sich allein an das Mögliche (Martin Buber) und blieb damit an der Grenze dessen stehen, wo höchste Religiosität allererst beginnt2.
Das antike Heidentum und fast alle anderen Religionen verquickten ihrerseits das Metaphysische mit naturhaft-Kollektivem. Die sonst so reine Religiosität der Perser gewann nie den Standpunkt jenseits der Polarität von Gut und Böse. Auf Indien und China lassen diese Einwände freilich keine Übertragung zu. Doch dem Inder war der Zusammenhang des Menschen mit dem Geisteskosmos, wie gesagt, so selbstverständlich und seine persönliche Minus-Seite so stark betont, sein Ethos so gering, dass die Frage der Religion als einer Sonderfunktion sich ihm nicht stellte. Ihm war alles Religion und nichts zugleich. Ähnlich steht es, mutatis mutandis, mit China. Soll Religion überhaupt ein differenziertes Besonderes sein, dann steht das Christentum ohne jede Frage obenan. Zunächst stellt es die Frage des Sündenfalls, mit dem der Mensch als ein besonderes Wesen seine Laufbahn allererst beginnt. Ohne Sündenfall kein möglicher Aufstieg dem Geiste zu. Aber die Schuld blieb dem Christentume nicht das letzte Wort: im Reich der Gnade, d. h. der Instanz oberhalb des letztentscheidenden Menschenethos, erweist sich die Tragik als integrierender Bestandteil überweltlicher Harmonie. Kein Wunder daher, dass der Erdkreis sich in diesem Sinn, wo immer er spezifisch religiös bleibt, im Rahmen beliebiger Glaubensvorstellungen, unaufhaltsam christianisiert.
1 | Man vergleiche hierzu die Ausführungen in Jesus der Magier. |
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2 | Ich verweise an dieser Stelle nochmals auf die zwei Sonderhefte 1925 u. 1926 der Zeitschrift Der Jude (Jüdischer Verlag, Berlin NW 7) und in diesen auf Oscar A. H. Schmitz’ Aufsatz Der jüdisch-christliche Komplex. |