Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Mein Glaube
Innere Vollmacht
Der Geist der Wahrhaftigkeit
wird euch den Weg in alle Wahrheit weisen
Johannes 16, 131
Ich glaube nicht, dass es vom Erkenntnisstandpunkt irgendeinen Wert hat, was ein Mensch, auch der Begabteste, über Wesensprobleme mit seinem Verstande denkt: Wert hat einzig die richtig bestimmte und formulierte wahrhaftige, d. h. in Funktion seiner Anlagen ausgedrückte reale Beziehung zwischen wahrem Selbst und wirklichem Gegenstand. Insofern sind schon die Gedanken jedes Romanciers, der sich selbst darstellt und die Gabe des Ausdrucks besitzt, interessanter, als die Erklügelungen der Klügsten der Gelehrten. Unbedingt bedeutsam aber sind auch sie noch nicht: wirklich angehen tuen Andere einzig Gedanken, die nicht Ansichten, sondern Einsichten verkörpern, insofern ihre Urheber sie in gleicher innerer Vollmacht vertreten, wie das vollkommene Auge die Außenwelt für jeden Menschen gültig widerspiegelt. Solch echte Erkenntnisse nun bewähren sich als solche auch allemal; wenn nicht sogleich, dann desto gewisser für die Dauer. Keine über die Ebene allen zugänglicher Erfahrung hinausgehende Wahrheit war je so zu beweisen, wie Experimentalwissenschaft und Logik dies verlangen, noch wird sie es jemals sein. Aber das noch so unbeweisbare Wahre erweist sich an der Wirkung, sofern es den Naturgesetzen auf der Ebene des Ausdrucks vollkommen Rechnung trägt. Zunächst leuchtet seine Wahrheit dann wie selbstverständlich denen ein, welche selbst zum Problem eine ursprüngliche Beziehung haben und psychologisch so organisiert sind, dass sie den Wortlaut jener ohne Weiteres verstehen. Dann machen wirklich geglückte Gedankenfassungen den, der sie in sich aufnimmt, fähig, den intendierten Sinn von sich aus zu reproduzieren, sofern er vorher latent ihnen lebte. Endlich steigert echte Erkenntnis. Sie bildet neuen Sinn dem Leben ein. Und dieser vitalisiert desto mehr, je positiver und tiefer er ist.
Doch nie noch fand einer für eine Wahrheit einen allgemeingültigen Ausdruck, der nicht die innere Vollmacht hatte zu ihr. Auf diese ursprüngliche Vollmacht kommt schlechthin alles an. Das Ohr wird niemals sehen, die Nase niemals schauen. Die Denkfunktion für sich kompetiert nur auf formallogischem Gebiet; über Wirklichkeit oder Unwirklichkeit hat sie kein Urteil. So habe ich denn von Kind auf a limine abgelehnt, irgendwelche Ansichten, bloß weil sie gescheit waren, ernstzunehmen. Sollte ich, wo Ernsteres als Unterhaltung in Frage kam, einem Anderen zuhören oder ihn lesen, so fragte ich mich jedesmal zuerst: Weiß dieser über die betreffende Frage im selben Sinne besser Bescheid als ich, wie der Falke weiter sieht als die Eule? Wenn ja, dann gab ich mich ihm hin. Wenn nicht, dann lehnte ich ab, mich um ihn zu kümmern, es sei denn, er wollte von mir lernen. Und gab ich mich versuchshalber hin, wie ich dies oftmals tat, da erste Eindrücke immerhin häufig trügen, so dauerte es nie lang, bis dass ich wusste, ob sich die Hingabe lohnte. Wenn ich mich innerlich öffne, nimmt das Fremde ohne Weiteres von meiner Psyche Besitz. Dann wirkt es sich zwangsläufig, seiner Natur entsprechend, in ihr aus, wobei es, falls der Betreffende ausdrucksfähig ist, keinen wesentlichen Unterschied bedingt, ob ich mit ihm zusammenbin und so den Einfluss seines ganzen Wesens in mich aufnehme, oder ihn nur lese. Hat einer unter diesen Umständen die innere Vollmacht zu dem, was er vertritt, dann spüre ich dies gar bald an persönlicher innerer Verswandlung. Hat er sie nicht, so bleibt er trotz größter Klugheit und Gewandtheit einflusslos. Denn die Psyche ist eine organische Wirklichkeit, die ebenso spezifisch wie die Physis auf andere Wirklichkeiten reagiert.
Aus dem Gesagten folgt nun aber nicht, dass ich weniger Lehrer gehabt hätte, als die Meisten: ich hatte deren mehr. Wohl fühle ich mich nicht einem verpflichtet, welcher nur meinte und wusste. Dafür aber jedem, der mich nah berührte und in irgendeiner positiven Hinsicht anders war als ich. Anders wie ich sind die Allermeisten. Indem ich nun dem Andersartigen meine Seele öffnete und ihn mit der meinen verband, nahm ich zeitweilig teil an seinem besonderen Sein und Können und wuchs damit über meinen bisherigen Zustand hinaus. So habe ich besonders viel von Tieren gelernt, die so ganz Anderes sind und können, als wir Menschen. In zweiter Linie, und aus den gleichen Gründen, von Frauen. Unter Männern wiederum haben mir einfache Naturmenschen besonders viel gegeben. Um je Gebildetere es sich handelte, desto mehr hing die Förderung, die ich von ihnen erfuhr, von direkter Überlegenheit ab. Insofern habe ich denn von Wirtschaftlern mehr gelernt als von Philosophen, und unter Geistigen am meisten vielleicht von Okkultisten. Was solche sehen, kann ich aus eigenem Können nicht nachprüfen. Wohl aber kann ich wissen, ob sie echt und wahrhaftig sind und ob ihr Erleben Reales betrifft oder aber nicht, wie immer man es deute, denn je nachdem verändert der Kontakt mit ihnen meinen eigenen Zustand. Nur von zwei Menschenarten habe ich nie das Mindeste gehabt: den Intellektuellen und Frommen. Das sind eben Typen, zu deren Wesen gehört, dass ihnen die innere Vollmacht fehlt. Beim Intellektuellen entspricht das Denken nicht dem Sein, beim Frommen sein Glauben und Handeln.
1 | Übersetzung meines Großvaters Alexander Keyserling von Joh. 16, 13, für seinen Grabstein auf dem Familienfriedhof zu Rayküll. |
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