Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Mein Glaube

Verwurzelung im Ursprung

Ich glaube also einzig an den Wert der Echtheit. Nicht zwar im Sinn des absoluten Werturteils, das persönlich substanzlose Kritikaster so gerne fällen: in dieser Hinsicht maße ich mir nie ein Urteil an. Auch der Verbrecher, sogar der Hochstapler kann so echt sein, wie die reinste Seele, wenn er sich nur so gibt, wie er wirklich ist, und niemand kann etwas für sein ursprüngliches Sein. Sondern im Sinne dessen, dass jeder nur zur Vertretung dessen befugt ist, was die reale Beziehung des gegebenen realen Subjekts zum realen Objekt dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck gemäß zum Ausdruck bringt. Die Realität dieser Beziehung bewährt sich nun in der Wirkung nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu. Hier findet sie ihren Ausdruck in primärem Glauben. Glauben bezeichnet die letzte psychologische Instanz der Beziehung des schlechthin Innerlichen, soweit es in der Vorstellung reflektiert wird, zum Außer-sich, weil es dessen Dasein überhaupt bejaht; es ist insofern das subjektive Korrelat des Seins1.

Wohl braucht man nicht zu glauben, um zu erleben, und wo die Wirklichkeit der Erfahrung von niemand angezweifelt wird, wie im Fall der Außenwelt, tritt die Bedeutung der Glaubensfunktion zurück. Aus den gleichen Motiven aber wird sie suprem auf dem Gebiet der inneren Erfahrung. Diese existiert nur für Einen, und alle übrigen Menschen tuen so, als gäbe es sie nicht. So behauptet sich innerliche Wirklichkeit, wo sie dem Betreffenden wirklich etwas bedeutet, und zwar proportional dieser Bedeutung, in Form betonten Glaubens. Bei solchem Glauben handelt es sich nie um einen Willkürakt. Es ist ebenso unmöglich, an innerlich Unwirkliches zu glauben, wie dass Unwirkliches sich nach außen zu positiv auswirkte. Vielmehr liegen die Dinge hier genau so, wie wir sie zu Anfang dieses Gedankenganges darstellten: der Grad möglichen primären Glaubens entspricht, nach innen zu, dem Grade möglicher realer Wirkung nach außen hin; der Glaube an sich oder an bestimmtes persönliches Erleben ist die naturnotwendige Folge der Einwirkung von Wirklichem auf die subjektive Vorstellungssphäre. Weil dem so und nicht anders ist, deshalb erwies sich die Größe einer Sendung seit Beginn der Geschichte ausnahmslos als der Stärke des Glaubens ihrer Träger proportional. Dass es sich hier um richtiggehend objektive Realitäten handelt, erweist sich vollends an der Wirkung solchen Glaubens auf die Außenwelt. Er bedeutete die primär werbende Kraft, also die eigentlich den Ausschlag gebende historische Macht in jedem Fall.

Für die erkenntnismäßige Wahrheit des Behaupteten steht die Stärke des Glaubens freilich nicht Gewähr; dieser Grad hängt vom Grade der Befolgtheit des Korrelationsgesetzes von Sinn und Ausdruck ab und dieser wiederum von vorhandener Verstehens- und Ausdrucksbegabung. Wohl aber entspricht die Stärke des Glaubens ausnahmslos der Stärke des noch so missdeuteten Wirklichkeitserlebens. Hier führe man ja keine Irre als Gegenbeweise an. Dass solche oft so stark an ihren Wahn glauben, liegt zunächst am zuerst behandelten Kausalzusammenhang, der reflektorischen inneren Behauptung gegenüber dem Unglauben der Anderen. Dann hat jeder Normalfall sein pathologisches Korrelat. Vor allem aber sind sogar Irre, solang ihre Welt nicht jede Beziehung zu der der Anderen verlor, allen Skeptikern und Kritikern gegenüber im Recht. Sie sind nun einmal irre. Sie können die Welt nicht anders als in verzerrter Perspektive sehen. Ihr Wahn ist insofern echter Wahrheitsausdruck. Und insofern sie ihre besondere Beziehung zur Welt bejahen, beweisen sie mehr Substanz, als der tut, welcher an nichts in sich zu glauben vermag. Gewiss ist auch ein solcher nicht substanzlos, denn wirklich Substanzlose Geschöpfe gibt es nicht. Aber seinem Bewusstsein fehlt auf alle Fälle der Kontakt mit seinem Wesen. So kann dieses sich nicht auswirken. Darum schritt die Geschichte bisher über alle, selbst die klügsten Skeptiker hinweg.

Der primäre Glaube eines Menschen kann nun unbeschadet seiner Echtheit mit einem bestimmten traditionellen religiösen Glauben zusammenfallen. Aber ebenso mag es sein, dass einer sich ohne Lüge zu keiner vorgegebenen Wahrheit bekennen kann. Dies hängt ganz davon ab, wie er tatsächlich im Kosmos eingestellt ist, welche Rolle das kollektiv-Psychologische in seinem Bewusstsein spielt, welche das rein individuelle Moment, welche Anlagen in ihm dominieren, welcher Geist von innen her bestimmt und worauf sein Leben als Ziel gerichtet ist. Hier lässt sich allgemein nur soviel sagen, dass der allein aufrichtigerweise eine vorgegebene Wahrheit als solche anerkennen kann, in dessen Seele das kollektiv-Psychologische gegenüber dem Persönlichen vorherrscht. Damit gelangen wir denn zum Problem der inneren Vollmacht zurück. Auch zu bestimmtem religiösem Glauben bedarf es solcher Vollmacht. Jeder kann sich nicht in gleichem Maß und Grad, ja jeder kann sich wahrhaftigerweise überhaupt nicht die gleichen Fragen stellen, weil nicht jede jeden persönlich angeht. Echt ist mancher nur wissenschaftlich interessiert, oder politisch, oder für einen bestimmten geliebten Menschen — vielen Frauen ist der Geliebte tatsächlich der eine echte Gott.

Nun ist vom Standpunkt des privaten Heils der individuellen Seele freilich zu wünschen, dass sie, auf Grund der Autorität von Besserwissenden, das wenigstens anerkennte, wozu sie kein ursprüngliches persönliches Verhältnis hat. Denn es gibt eine objektiv gültige Skala von Wesenswerten, und wer zu den vornehmsten von diesen gar keine Beziehung hat, ist freilich inferior. Insofern sollten von der kosmischen Fügung gar nichts Wissende an solche wenigstens glauben, denn die Bejahung des noch nicht gewussten Wirklichen schafft auf die Dauer, innerhalb der Grenzen des jeweils organisch Möglichen, die entsprechenden Erkenntnisorgane. Aber bei alledem handelt es sich um private Angelegenheiten. Für Andere zählt immer allein das ursprünglich, Echte, das Wort ursprünglich zwar nicht notwendig im Sinn der Zeit verstanden, desto mehr jedoch im Sinn der Verwurzelung im eigenen Ursprung. Denn nur das Echte bringt Wirkliches unmittelbar zum Ausdruck und kann deshalb Wirklichkeit schaffen oder anklingen lassen. Ferner gibt es geistige Problematik nur auf über-Privates hin; nur das an einer Person, was als Sinnbild für alle taugt, verkörpert für Andere geistiges Interesse. So habe ich denn, seitdem mein verstehendes Bewusstsein erwachte, nur das ursprünglich Echte als wertvoll anerkannt. Nie habe ich in wesentlicher Hinsicht an irgendeine sachliche Wahrheit, einen sachlichen Wert geglaubt. Aus der ursprünglichen Erkenntnis dessen heraus, was das Vorhergehende ausführte, habe ich mein ganzes persönliches Leben gestaltet. Aus ihr heraus und auf sie hin will ich denn nun, zum Schluss, von meinem strikt persönlichen Glauben reden. Denn offenbar liegt ein insofern rein Subjektives dem noch so Objektiven, das ich herausstelle, primär zugrunde2.

1 Vgl. die Ausführung dieser Gedankengänge im Kapitel Das Problem des Glaubens meiner Unsterblichkeit.
2 Dieses Kapitel stellt eine Ergänzung zur autobiographischen Einführung meiner Menschen als Sinnbilder dar. — Neuerdings existiert überdies eine wirklich gute zusammenfassende Darstellung meiner Gesamtweltanschauung in französischer Sprache: Maurice Boucher, La philosophie de Hermann Keyserling, Paris 1927, Rieder éditeur. Ohne mich mit Bouchers Systematisierung zu identifizieren, erkenne ich doch an, dass Boucher zuerst richtig verstanden hat, inwiefern alle meine Sondererkenntnisse und -betrachtungen zusammenhängen.
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Mein Glaube
© 1998- Schule des Rades
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