Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Mein Glaube
Gast auf Erden
Ich verkörpere bewusst einen ganz bestimmten Standort im Universum und keinen anderen. Ich bin ein einziges Wesen von bestimmten Anlagen, die ich als solche hinnehme, so wie ich jeden Anderen hinzunehmen habe. Über mein ursprüngliches Sosein zu richten und zu urteilen, wäre ebenso anmaßend von mir, wie wenn ich in diesem Verstande über Andere urteilte: ich habe mich nicht gemacht, ich ward mir übergeben. Und soll ich vor Anderen Ehrfurcht empfinden, so schulde ich sie gleichermaßen mir. Meiner Natur nach gehen mich nur bestimmte Dinge und bestimmte Fragen persönlich an. Und zu diesen kann ich nur in bestimmter Einstellung, mittels bestimmter Funktionen, auf denen für mich der vitale Nachdruck ruht, eine wahrhaftige Beziehung finden. Dementsprechend stellen sich mir ganz bestimmte Aufgaben und keine anderen. Dementsprechend kann ich nur das glauben, was ich wahrhaftig erlebe, in mir und außer mir. In diesem Sinn nun glaube ich zunächst an mich selbst, seitdem ich denken kann, als an einen wesentlich nicht-irdischen Geist. Nie habe ich mich anders denn als Gast auf Erden gefühlt. Trotz überströmender Vitalität und überstarker Triebe habe ich mich zu keiner Zeit mit Körper und Natur-Seele identisch gefühlt, nie wesentlich verwandt mit meinen Blutsverwandten. Sogar Freude und Leid, die ich als Mensch so stark empfinde, wie nur irgendeiner, haben das Wesen in mir, mit dem allein ich mich letztlich identifiziere, nie innerlichst berührt. So habe ich mich auch durch Erdenbande nie anders gebunden gefühlt, als wie durch äußere Fesseln. Aber als solche drücken sie mich desto mehr. Dies gilt zumal von der Bindung an den Prozess des Werdens und Vergehens der Natur.
Mein Verhältnis zum Tode ist eigentümlich. Ständig denke ich an ihn. Mir graut vor ihm, wie vielleicht keinem Zweiten, denn ich empfinde ihn, von meinem Wesen her beurteilt, als schlechthin widersinnig. Einerseits weiß ich mich unzerstörbar, anderseits ist mir klar, dass das Allermeiste dessen in mir, was mein Bewusstsein spiegelt, unlösbar dem Erdenleben angehört und ganz bestimmt vergehen wird. Dies ergibt, für mein Bewusstsein, einen unleidlichen Widerstreit. Er ist desto unleidlicher, als ich die Vergänglichkeit an sich extrem lebendig erlebe. Ich kenne eigentlich kein Zeit-, sondern nur ein Gleichzeitigkeitsbewusstsein, so oft ich meine Aufmerksamkeit den Bildern meines inneren Auges zuwende. Was jemals war, was ich je erlebt, steht da als Heute vor mir, so gegenwärtig, als gäbe es kein Vergehen. Und furchtbar ist es, was sich mir da meistens darstellt. Alle Zustände, in denen ich je einen Menschen sah, alle Worte, die er meines Wissens jemals sprach, sind mir simultane Erfahrung. Und bedeutet die so zusammengeschaute Bewegung Abstieg oder Zerstörung, dann fällt es mir schwer, mich nicht schaudernd abzuwenden … Aber andererseits sehne ich den Tod doch immer wieder herbei; wenn nicht im Wachen, dann in meinen Träumen. Irgend etwas in mir erhofft von ihm die letzte Befreiung. Mein Tiefstes jauchzt ihm gar, unsterblichkeitsbewusst, entgegen.
Aber ich fühle mich nicht nur wesentlich ewig, ich fühle mich wesentlich frei. Und wenn ich unter der Vergänglichkeit gerade deshalb besonders leide, weil ich mich unsterblich weiß und dieses Wissen mit meinen irdischen Organen, die samt und sonders Vergänglichkeiten sind, nicht fassen kann, so leide ich gerade kraft meines Freiheitsbewusstseins mehr als die Meisten unter jeder Bindung. Immerhin überwiegt hier das Bewusstsein des Positiven das des Negativen. Verhaftung, Verfallenheit, so wie sie Viele erleben, habe ich nie gekannt, und dafür bin ich dankbar. Auf mein wesentliches Erleben passt überhaupt nur der Begriff der Freiheit, denn was Manche inneres Müssen heißen, weil es sie zwingt, ist vom Standpunkt meiner Bewusstseinslage primär gewollt. Was ich muss
— und freilich muss auch ich gar vieles, nicht nur von Gemeinschaftswegen, sondern auch aus Gründen der Eigengesetzlichkeit meiner sterblichen Natur —, muss ich nie anders als im Sinn des Sträflings, bestenfalls des Soldaten. Mein Selbstbewusstsein betrifft eben einzig meinen Geist. Leib und Seele empfinde ich primär als bloße Ausdrucksmittel. Schon mit zwanzig Jahren, damals ganz ungeistig, philosophisch vollkommener Ignorant, hieß ich meinen Körper mit Vorliebe mein Instrument und meine Gefühle mein inneres Milieu. So kann ich denn nur in der Vorstellung, niemals von eigenem Erleben her verstehen, wie die Probleme von Leib und Seele irgend jemand Wesensprobleme bedeuten können. Hier liegt denn auch meine wichtigste Grenze: nur das Problem des Geistes geht mich wesentlich an. Nur in bezug auf dieses bin ich kompetent.
Doch nun kommt das Seltsamste: diesen Geist, als den allein ich mich fühle und anerkenne, kenne ich doch nicht. Zwischen ihm und meiner irdischen Natur besteht eine letzte Unvereinbarkeit, die diese hindert, das Gewusste ganz zu fassen. Noch war mein Bewusstsein kein einziges Mal imstande, die Wesenheit und Art meines Geistes so klar zu spiegeln, wie mein Erkenntnisvermögen fordern darf. Noch nie hatte ich einen Augenblick solch’ verstehender Gewissheit, wie sie wenigstens einige indische Weise offenbar erlangt haben. Religiöse Gewissheit im üblichen Verstand werde ich nun nie erringen: dies verbietet meine besondere Einstellung und Konstitution. Nach dieser strebe ich auch gar nicht und habe es nie getan. Sehr bezeichnenderweise fehlt mir, wie ich jedesmal erneut, wo ich mit Hellsehern zusammen bin, konstatiere, insofern sogar jede Neubegier. Ich habe da immer das Gefühl, dass ich unbewusst sehr wohl Bescheid weiß, weswegen keine Offenbarung mich überrascht, dass ich aber anderseits nicht zu viel fragen und unter keinen Umständen eine gläubige Entscheidung treffen darf. Während der ersten dreißig Jahre meines Lebens quälte mich dies Dilemma öfters sehr. Jetzt weiß ich wenigstens soviel, dass ich verstehe, warum ich ihm nicht entrinnen darf.
Mein Geist, mein tiefstes Selbst will sich seinen persönlichen Körper schaffen. Dies kann ihm nur gelingen, sofern ich nichts annehme, was ich nicht persönlich erwarb, nichts glaube, was ich nicht aus persönlicher Erfahrung weiß, nichts vertrete, was ich im gegebenen Augenblick nicht wirklich bin. Unbedingte persönliche Wahrhaftigkeit ist mein einer kategorischer Imperativ. Ein anderer innerer Imperativ verbietet mir, je still zu stehen. Denn nur mittels persönlicher Initiative kann sich der Geist in dieser Welt des Werdens manifestieren. Auch das Ich ist ja ein Vorgang, weshalb sich das Sein nur im Schaffen realisiert. Hieraus erklärt sich, warum ich schon als Jüngling, indem ich einerseits meine Natur mit all’ ihren Fehlern unbefangen hinnahm, als unbedingte Pflicht fühlte, das Äußerste aus ihr zu machen und in der Trägheit die eine Sünde sah wider den Heiligen Geist. Hier nun setzt ein weiterer Glaube ein, der für mich völlig Gewisses zum Gegenstande hat.
Unter den Menschen fühle ich mich vollkommen einsam, denn noch fand ich keinen, dessen Bewusstseinszentrum eben dort läge, wie bei mir. Aber innerlich weiß ich mich primär mit allen eins. Dies ist bei mir so selbstverständlich der Fall, dass sich mir buchstäblich noch nie die Frage freier Verfügung über mich im selben Sinn stellte, wie den meisten Anderen. Ich fühle meine Person primär als Organ der Menschheit, und zwar als Organ unter andern. Deswegen verstehe ich einerseits schwer, wie man Andere beneiden kann, denn deren Gaben empfinde ich irgendwie als in keiner größeren Distanz von meinem Selbst belegen, als meine eigenen. Deswegen trat ich andererseits von je, wo mir dies erforderlich schien, mit äußerster Rücksichtslosigkeit für das, was ich für mich erstrebte, ein, nahm ich auch nie die mindeste Rücksicht auf das Vorurteil, dass man von sich nicht gut denken darf: rechne ich die Anderen als mir zugehörig und lasse sie insofern in allen Hinsichten gelten, wo sie kompetieren, so beanspruche ich für mich selbstverständlich Gleiches seitens der Anderen. So ist denn mein Wollen primär zugleich ein Sollen. Ich weiß primär, und habe es schon gewusst, als nicht das geringste sichtbare Anzeichen meiner Berufung vorlag — denn ich war als Kind und Jüngling durchaus Durchschnittsmensch —, dass ich eine bestimmte Aufgabe auf Erden habe. Was ich hier Wissen nenne, ist vom Standpunkt der Anderen natürlich Glaube.
Aber meine Aufgabe verfolge ich wiederum nicht als Pflichtleistung, sondern in primärer Freiheit, so schwer sie meiner Natur mitunter fällt. Der Geist kennt kein Müssen, keinen Zwang. Ihm — und folglich auch dem, dessen Bewusstsein in ihm Wurzel fasste — ist sein primäres Wollen wesenseins mit dem, was der Geist-Unbewusste bestenfalls als innere Pflicht empfindet. So lebe ich denn in Freiheit aus einer Art dunklen Wissens heraus. Eines ganz gewissen Wissens um meine wesentliche Geisthaftigkeit. Eines ganz gewissen Wissens um meine Berufung als Organ der Menschheit. Und doch bisher ohne vollkommenes Verstehen dessen, wer ich bin.