Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Mein Glaube
Experimentieren
Damit gelange ich denn zum Problem des Glaubens an meine bestimmte Sendung. Sofern ich für Andere lebe, tue ich es nicht als Seelsorger, sondern als Staatsmann. Seitdem ich denken kann, habe ich mich selbst und späterhin mein Werk in historischer Perspektive gesehen. Diese Perspektive ist mir angeboren. Gewiss gibt es zeitlos wirksame Geister: das sind die, welche zu aller Zeit den Einzelnen auf seinem Wege fördern. Es sind ferner die, für die das Historische als solches keine Rolle spielt, die nur den Einzigen als Privatmenschen meinen. Ich nun kann meiner Natur nach nur historisch denken, wenn ich mich überhaupt irdischen Problemen zuwende. Erstens ist mir Selbstverständlichkeit, dass in dieser Welt des Werdens und Vergehens die Erscheinung — und folglich auch alle bestimmte Problemstellung — zeitlich bedingt ist. Dann weiß ich, dass obschon alles Kollektive letzthin um des Einzigen willen da ist und geschieht — weshalb es immer ein Missverständnis bedeutet, die Interessen Vieler höher einzuschätzen als die des Einen —, gerade die Einzigen als solche ihrerseits einem geistigen Zusammenhange angehören, dessen höhere Einheit sich als Ganzes fortentwickelt. Darum unterliegt das Menschenleben nicht nur dem Chronos, sondern dem Kairos.
Zu bestimmter Stunde bedarf es bestimmter Impulse, die sich an Alle wenden, damit gerade der einzige Einzelne vorwärtskomme. Primärer Sinn für den Kairos nun ist es, was den historisch Bedeut- und Wirksamen macht. Wem das historische Werden nicht als solches unmittelbare Gegebenheit ist, kann es nicht lenken. Ich nun lebe primär die Geschichte; ich lebe historisch ebenso primär, wie andere privatpersönlich leben. Mir fehlt gerade für das Private aller Sinn. Dies kommt von der besonderen Einstellung im kosmischen Zusammenhang, die ich nun einmal habe. Und da ich diese wirklich habe, so ist es mir gänzlich gleich, ob Andere mich als historische Figur erkennen oder anerkennen: bin ich’s, so werde ich mich naturnotwendig als solche bewähren. Lange wusste ich wohl, dass ich eine Sendung hatte — denn irgendeine hat jeder —, nicht aber welche.
Jetzt weiß ich’s. Jetzt weiß ich zugleich, warum ich von Hause aus so wenig wissen und gar nichts glauben durfte. Meine Anlage ermöglicht ein reines Experimentieren mit der eigenen Seele, wie es nicht jeder sich zumuten darf. Ich vertrage es, ganz offen, vollkommen voraussetzungs- und hemmungslos zu sein. Ich habe keine religiösen Vorurteile, die mich innerlich hinderten, von mir aus zu erfahren. Ich habe auch keine moralischen, wie Marc Aurel. Ebensowenig bin ich Skeptiker, wie La Rochefoucauld, denn Skeptizismus bedeutet Entscheidung für die Ungewissheit. Vor allem aber ward mir die Gnade der Kraft zuteil, jedes Gestern verleugnen zu können, jeden Morgen als quasi-modo-genitus aufzustehen. So kann sich der Geist in mir mit besonderer Leichtigkeit einen neuen Körper schaffen. Ihm dazu die Gelegenheit zu bieten, dazu bin ich letztlich als empirische Erscheinung da. Und meine historische Aufgabe ist, einem neuen Allgemeinzustand, also experimentierend, den Weg zu bereiten. Doch nur die jeweiligen Einzelergebnisse meines Experimentierens sind präzise und klare Erkenntnisse. An deren Früchten erkenne ich die Wesensart dessen, was mich von innen her treibt. In seinem An-sich-sein kenne ich es noch nicht. Da kann ich nur sagen, dass ich daran glaube. Gewiss läge es nahe, meine vielfältigen Erfahrungen einem theoretischen Zusammenhange einzugliedern. Jeder Andere an meiner Stelle wäre wohl längst wenn nicht Religionsstifter, so doch der Vater eines ganz bestimmten metaphysischen Systems geworden. Allein ich darf nichts bekennen, was ich für mich nicht mit Gewissheit weiß. Was ich nur denke
, ist vollkommen bedeutungslos.
So bin ich denn ein Gläubiger und glaube doch nicht im Sinn der anderen Menschen. Mein Weg ist, in der Selbstschöpfung-Selbstverwirklichung zu finden. Ich bin ein Suchender und Getriebener zugleich. Zum Schauen berufen, bin ich doch ein Blinder. Meine Heimat liegt ganz gewiss nicht hier auf Erden. Wo liegt sie? Das weiß ich nicht. Noch nie hatte ich eine religiöse oder okkulte Offenbarung, wie solche Andere von sich berichten. Aber wird der Schleier mir einmal gelüftet, dann werde ich schwerlich erstaunen: denn mein Geist weiß alles von jeher.