Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Weltanschauung und Lebensgestaltung

Das Bild der Menschheit

Wie stellt sich das Bild der Menschheit, nunmehr zusammengeschaut, in kosmischer Perspektive dar? Als eine in Raum und Zeit einheitlich zusammenhängende Mannigfaltigkeit, deren Glieder einseitige, Abstraktionen vergleichbare Bildungen sind. Diese Mannigfaltigkeit ist empirisch unzurückführbar; die wesentliche Einheit kann nur als Vielheit in die Erscheinung treten. Nur vom Ganzen her, in dem sein Sinn liegt, ist aber das Einzelne andererseits zu verstehen. Jetzt leuchtet die Sinnlosigkeit des Verfahrens, irgendeine Gestaltung um ihrer Sonderart willen zu verwerfen, wohl endgültig ein: aus sich allein heraus ist keine zu verstehen, erst aus dem Zusammenhang ergibt sich ihre Stellung. Zugleich erweist es sich jetzt wohl endgültig als sinnwidrig, von einem Typus zu fordern, was nur ein anderer darstellen kann: das Weib kann keine Männer-Tugenden, der Künstler nicht die des Kriegers, der Überempfindliche nicht die des Draufgängers sein eigen nennen, der Willensmensch nicht aus dem Gefühle leben. In jedem Typus tritt ein besonderer Aspekt der Menschheit in entsprechender Einseitigkeit in die Erscheinung. Wir haben also schlechthin jede Lebensgestaltung als kosmisch gerechtfertigt gelten zu lassen.

Von den einseitigen Daseinsformen sind die Grundtypen schlechthin notwendig und treten deshalb überall und immer gleichsinnig auf; so die des Religiösen, des Kriegers, Denkers, Künstlers, Täters, Händlers; sie entsprechen den Grundfunktionen schlechthin jeder Seele, und damit der Menschheit. Denn auch in jedem Einzelnen leben die Verschiedenen Typen ursprünglich selbständig nebeneinander her. Diesen notwendigen Bildungen stehen die Missbildungen in diametraler Gegenstellung gegenüber. Solche entsprechen schiefen und deshalb für die Dauer unhaltbaren Einstellungen des Ganzen; ihr Ausdruck ist Krankhaftigkeit, Verrücktheit, Wahnsinn, Monstrosität; sie wirken zufällig, so oft sie wiederkehren. Empirisch sind sie genau so gerechtfertigt, wie die Archetypen, nur eben in ihrer Dauerlosigkeit. Zwischen den beiden Extremen liegen die zeitlichen Gestaltungen, sonach alle die, die das konkrete Bild einer gegebenen Erscheinungswelt bestimmen. Deren Stellung und Sinn leuchtet aus der Betrachtung der nationalen Typen wohl am schnellsten ein.

Die Kulturvölker sind rein einstellungsbedingt, nicht in erster Linie Funktionen von Umwelt oder Blut; letztere Momente fixieren nur eine geistige Grundhaltung, die sich auf Erden natürlich dort allein vererbt, wo die entsprechenden Verkörperungsmittel vorliegen. So ist der Franzose — ich führe ganz schnell, schlagwortartig, ohne auszuführen, ein paar typische Beispiele an, und diese auch nur in absichtlich einseitiger Fassung — in erster Linie nicht Gallo-Romane, sondern der Europäer, dessen Grundeinstellung dem Willen zur Form, von entsprechender Empfindlichkeit gespeist, das Primat im Seelengefüge gibt; der Engländer nicht Angelsachse, sondern der Mensch, bei welchem der Wille zur Macht die Dominante ausmacht, weshalb er nicht im deutschen Sinne reflektieren kann, sich immer im Recht fühlen muss. So lässt sich die typische Lebensmodalität des Russen als Wille des Tieres zu Gott, unter Überspringung des eigentlich menschlich-Kulturellen, bestimmen, und die des Deutschen als Wille zum Erlebnis, dank wem diesem großes Pathos, doch nur geringes Ethos eignet, weshalb er mehr epimetheisch als prometheisch denkt und fühlt, mehr als Objekt denn als Subjekt der Geschichte schöpferisch erscheint. Weil die Einstellung das Primäre ist, nur deshalb können Menschen jedes Bluts und jeder Heimat grundsätzlich von jedem Kultur-Volkskörper aufgesogen werden; nur deshalb sind verschiedene selbständige Kulturseelen möglich, in welchen sich-gleichbleibende biologische Einheiten von Jahrtausend zu Jahrtausend zeitweilig aufgehen; nur deshalb wandelt sich der Charakter des Einzelvolks dank geistigen Einflüssen, welche es in sich aufnimmt, so leicht, wie denn der moderne Engländer dank Puritanismus und Methodismus ein ganz anderes darstellt als sein elisabethanischer Vorfahr. Auch die Völker bedeuten also in ihrem Sosein wesentlich Einstellungstypen; insofern gilt von ihnen dasselbe wie von den Urtypen; auch sie stellen verschiedene Aspekte eines einigen Ganzen dar. Deshalb allein können sie sich untereinander überhaupt verstehen.

Und hieraus müssen wir folgern: da jede nur denkbare Einstellung möglich und jede haltbare eben dadurch kosmisch gerechtfertigt ist, so sind alle Völker auch empirisch gleichberechtigt. Es ist sinnwidrig, eins insofern absolut höher als ein anderes zu stellen. Auch die Völker ergänzen sich in erster Linie in Raum und Zeit. So viel muss jedem klar werden, wenn er allein die Geschichte der europäischen Kultur, einer fraglosen Einheit, im Geiste überschaut. Nur ist kein erscheinender Menschheitskosmos jemals vollständig. Die Menschheit befindet sich, im Zusammenhang mit dem Gesamtkosmos, in fortlaufendem Werden. Dessen Prozess ist unumkehrbar; in der Folge, nie in der Gleichzeitigkeit, könnte das Ganze allenfalls ganz in die Erscheinung treten. Deshalb kann keine erscheinende Menschheitswelt ohne Anmaßung je als bestmögliche beurteilt, kann in keinem Fall behauptet werden, der manifestierte Zusammenhang sei vollständig. Was über die Urtypen hinaus in die Erscheinung tritt, ist immer orts- und zeitbedingt, nur so zu begreifen — und von hier aus darf man freilich das Urteil aussprechen, dass es günstigere und ungünstigere Klimas, bessere und schlechtere Zeiten, reichere und ärmere Gesamtbilder gibt. Die Menschheit dichtet nicht anders wie der einzelne Dichter: jedes Drama ist anders, nicht alle sind gut, keines erschöpft in sich sämtliche Möglichkeiten, die in der Dichterseele schlummern; auch vom Faust gilt letzteres, auch von Shakespeares Höchstschöpfungen. Aber jedes Drama ist für sich doch eine vollständige Einheit; es besteht notwendig aus einer Vielheit zusammenstimmender Rollen. Und da wir lebendige Menschen als solche Rollen eines bestimmten Dramas unseren kosmischen Sinn und Ort haben, eines Dramas, das nicht wir selbst erdichtet haben, das wir vielmehr voraussetzen müssen, so steht es uns, noch einmal, nimmer an, irgendeine Gestaltung als Erscheinung zu verurteilen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Weltanschauung und Lebensgestaltung
© 1998- Schule des Rades
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