Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
I. Weltanschauung und Lebensgestaltung
Wert und Unwert
So scheint es, dass man die Frage nach dem Wert bestimmter Lebensgestaltung überhaupt nicht stellen darf. In empirischem Zusammenhang ist dies tatsächlich unmöglich. Empirisch ist überhaupt nicht zu entscheiden, warum eine Einstellung besser als die andere sei. Schlechthin alles lässt sich kausal erschöpfend begründen, schlechthin jede Gestaltung muss insofern genau so sein, wie sie sich darstellt. Und dies gilt nicht allein von den Gestaltungen des Lebens, sondern auch von denen des Geists. Auch diese sind in ihrem Dasein allemal kosmisch bedingt und insofern notwendig; was von den Lebensformen gesagt wurde, gilt mutatis mutandis auch von den Weltanschauungen. So entspricht der Konstanz der Grundtypen möglichen lebendigen Daseins eine nicht minder große derjenigen möglicher Religion, möglicher Staatsform, möglicher Philosophie; hier scheinen kaum minder starre innere Grenzen vorzuliegen als in der Welt der Minerale, die im Rahmen von nur sechs und nicht mehr Systemen kristallisieren können. Es gibt — völlig unabhängig vom theoretischen Wahrheitswert des jeweils betrachteten Geistgebildes — eine katholische, protestantische, pantheistische, ästhetisch-hinnehmende, gespannt-ethische, symbolisch-verstehende, kritisch-bestimmende, eine monarchistische und eine republikanische Grundhaltung, deren jede sich innerhalb jedes nur möglichen Kosmos geistbewusster Menschen feststellen lässt und von denen jede, als mögliche Einstellung, kosmisch berechtigt ist. Auch hier kann das Einzelne nur vom Ganzen her gewürdigt werden: so ist Protestantismus möglich nur auf dem Hintergrund des Katholizismus, postuliert dessen Weite andererseits die Verengerung und Spannung, die den Protestantentypus kennzeichnet, wo immer er sich findet.
Auch auf geistigem Gebiet erweist jedes Einzelne sich als notwendig einseitig und gerade insofern als sinnvoll. Und auch hier geht dies bis in Kleinste und Letzte, ja bis ins Pathologische: unter gewissen Voraussetzungen entspricht ein Wahngebild der empirischen Wirklichkeit einer Seele, die eben durch dieses ihre schiefe Einstellung im Kosmos richtig bestimmt; man beweise noch so einwandfrei die erkenntnismäßige Unhaltbarkeit bestimmter Ehrbegriffe, bestimmter Formen des Sündbewusstseins — insofern die jeweiligen empirischen Voraussetzungen erlebnismäßig gelten, sind sie empirisch berechtigt. Hier kann einer sogar unter Umständen theoretisch Falsches nicht verleugnen, ohne dadurch oberflächlicher zu werden, als er war: wie dies der seelische Tiefstand des typischen aufgeklärten Proletariers, dessen lebendige Voraussetzungen noch ganz einem unkritischen Zustand angehören, im Vergleich zu seinen köhlergläubigen Genossen, allzuoft beweist. Solange wir im Rahmen des astronomisch-astrologischen Zusammenhanges urteilen, haben wir demnach sogar den Denk- und Glaubensgebilden gegenüber Relativisten zu sein. Es ist nun entscheidend wichtig, einzusehen, dass die Erscheinung als solche, welcher Art sie immer sei, aus jenem Zusammenhang nicht herausgerissen werden kann und folglich auch nicht darf. Ich zeigte schon, inwiefern die Zeit nach der Aufklärung anthropozentrischer geurteilt hat als alle vorher: was für das Gebiet der Lebensgestaltungen gilt, trifft genau so für das der Geistesschöpfungen zu. Auch diese sind in erster Linie kosmisch berechtigte Tatsachen. Den Verstand und seine Normen in Ehren. Selbstverständlich kompetiert Logik auf ihrem Gebiet, kann objektiv darüber entschieden werden, ob ein theoretischer Irrtum vorliegt und wo. Aber der Verstand ist nur ein Ausdruck unter anderen der Lebensganzheit, er ist keine Instanz über ihr. Intellektuelle Widerlegung an sich hat noch kein Lebewesen aus der Welt geschafft, und Lebewesen in erster Linie sind auch die Geistesgestaltungen. Von diesen haben gerade die Vorurteile in der Regel so zähes Leben bewiesen, dass die meiste Geschichte die Auswirkung solcher betrifft: Grund genug zur Erkenntnis, dass das Leben zunächst immer im Recht ist gegenüber dem Verstand.
Darf man also die Frage nach dem Wert bestimmter Lebensgestaltung im weitesten Sinn, die geistigen inbegriffen, wirklich gar nicht stellen? Freilich darf man dies; und zwar sogar so eindeutig-radikal, wie dies nur je geschah. Sie muss nur in anderer Dimension als der gestellt werden, in welcher unsere Betrachtungen sich bisher bewegten. Sie muss auf die Antwort hin gestellt werden, inwieweit das jeweilige Besondere das Totale eigentlich zum Ausdruck bringt. Gedenken wir dessen, dass es zu allen Orten und zu allen Zeiten, innerhalb aller bekannten Weltanschauungen und Lebensgestaltungen, große und kleine, tiefe und flache Geister gegeben hat. In aller, frühesten Zeiten ist Äußerstes erkannt und dargestellt worden. Im Rahmen aller Religionsvorstellungen hat letzte Einsicht überzeugenden Ausdruck gefunden. Unter allen Nationen lebt Bestes und Schlechtestes nebeneinander. Dieser Tatbestand ist so allein zu verstehen, dass dem astronomisch-astrologischen Kosmos, welcher sich in die äußere Unendlichkeit der Räume und Zeiten ausbreitet, bildlich gesprochen, in der Dimension der reinen Innerlichkeit ein Geisteskosmos eingebaut ist, demgegenüber jener nur das Ausdrucksmittel bedeutet. Gedenken wir hier der Ergebnisse der Schöpferischen Erkenntnis, dass Leben Sinn ist, dass jedes Einzelleben einen Sinneszusammenhang darstellt und solchen höherer Ordnung angehört, dass aus diesem Grunde wesentlicher Fortschritt nur nach innen zu verlaufen kann, und schauen wir diese mit unseren heutigen Betrachtungen über die Möglichkeit der Astrologie und die Wirklichkeit des Menschheitskosmos zusammen; erinnern wir uns gleichzeitig dessen, dass alles Besondere, ob physisch oder psychisch, zugleich eine kosmische Situation verkörpert, dann wird uns das Bild eines realen, dem äußerlichen eingebauten Geisteskosmos sofort als zutreffend einleuchten. Zweifelsohne hält ein Sinneszusammenhang das Äußerliche von innen her zusammen. Wenn dem aber also ist, dann bedeutet alles das, was überhaupt erscheint, in bezug auf das wesenhaft-lnnerliche, nur eine mögliche Sprache. Dann kommt es von dessen Standpunkt einzig darauf an, was ein Geschöpf in dieser sagt: ob es im Rahmen seiner empirischen Möglichkeiten, welche es freilich als gegeben hinnehmen muss, sein geistiges Wesen zum Ausdruck bringt und wie. Hier setzt denn das Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck ein. Das Empirische wird genau insoweit wertteilhaftig, als es in seiner Bestimmtheit seinen Sinn realisiert. Und hier greift zugleich die Welt der Werte in die der Erscheinungen ein. Wo unglückliche Anlage, Aberglaube, Unwissen, falsche Theorie die Harmonisierung des Eigen-Sinns der Erscheinung mit dem tiefsten Sinn unmöglich macht, muss jene undurchdrungen bleiben.
Das einzigartig Werbende der chinesischen, hellenischen und französischen Kultur beruht auf dem allein, dass in ihnen allein bisher jene durchgängige Korrespondenz von Sinnesober- und -untertönen erreicht war, deren es bedarf, damit ein Einklang entstehe, der sich als Rhythmus übertragen kann. Dieser schafft die Vermittlung zwischen empirischer Berechtigung und geistigem Wert: was häßlich, schlecht oder falsch wirkt, beweist das mit, in diesem Zusammenhang betrachtet, allemal solchen Mangel an Einklang. Der absolute Vorzug des wissenschaftlich-exakten Ausdrucks gegenüber dem mythischen beruht auf dem gleichen Umstand, auf dem gleichen letztlich die unbedingte Unsterblichkeit einiger weniger, und zwar nur dieser, Geistesschöpfungen, ob es sich um Kunstwerke, religiöse Offenbarungen oder Gedankenfassungen handelt1. Jetzt ist wohl grundsätzlich klar, trotzdem ich den Zusammenhang an dieser Stelle gerade nur skizzieren konnte, warum wir doch Werturteile fällen dürfen, obgleich wir jede Erscheinung ohne Ausnahme, die Geistesschöpfung immer inbegriffen, sofern sie nur da ist, in erster Instanz als kosmisch gerechtfertigt hinnehmen müssen. Wohl bedeutet es Anmaßung, vom Intellekt her zu dekretieren, was sein darf und was nicht, denn der theoretische Irrtum an sich stellt nie ein Letztes dar: er mag als solcher echtester Wahrheitsausdruck sein. Die Erscheinung ist ja allemal nur Sprache vom Standpunkt des Sinns, und bloße Sprache ist insofern alle Konfession sowohl als wissenschaftliche Theorie. Erst vom vierten Sprachenstockwerk aus (vgl. Schöpferische Erkenntnis S. 31) darf man überhaupt Werturteile fällen. Von diesem aus aber darf man es allerdings. Von diesem aus muss man es. Denn wir Menschen sind in erster Linie Glieder nicht der Natur, sondern des Geisteskosmos. Uns gehen die Normen jener nur insofern an, als wir auf sie als Mittel angewiesen sind.
Und da erweist es sich denn, dass die Frage nach Wert und Unwert sich grundsätzlich untheoretisch stellt. Nicht darauf kommt es an, dass Widerlegung
irgendeine Erscheinung erledigte — das kann sie gar nicht —, sondern dass der Geist, aus eigener Befugnis, seinen eigenen Normen gemäß, bestimmte Sinnesausdrücke praktisch verwirft. Unter den unzähligen kosmisch möglichen Gestaltungen sollen nicht alle leben. Was auf geistigem Gebiet in irgendeiner Hinsicht Irrtum bedeutet, soll verschwinden. Die betreffende Wahl ist, noch einmal, nie in der Horizontale der Empirie, sondern einzig der Vertikal-Dimension der Sinnesverwirklichung zu treffen. Eine Änderung des Weltalphabets als solchen steht niemals in Frage. Weder ist unglückliche Anlage an sich für jene ein Hindernis — aller Fortschritt geht gemäß esoterischer Tradition auf Kain zurück, die Horoskope aller großen Geister waren ungünstig —, noch, auf dem Gebiet der Weltanschauung, eine an sich unglückliche Einstellung. Mag die gespannt-ethische des Protestantismus gegenüber der katholischen eng erscheinen, sie ermöglicht trotzdem höchste Sinnesverwirklichung. Einzig darauf kommt alles an, wo der Akzent ruht im Zusammenhang. Diese Wahrheit leuchtet vielleicht am besten ein, wenn man bedenkt, wie Verschiedenes aus ursprünglich gleichen Begabungen werden kann. In der Grundanlage stimmen Verbrecher und Heiliger überein, eine gleiche Ureinstellung ermöglicht den Priester und den Taschenspieler, eine mindestens naheverwandte den Staatsmann und den Schieber. So ist auch innerhalb aller Geistesgestaltungen Hohes und Niederes, aus gleicher Wurzel entsprossen, nebeneinander zu finden: im Katholizismus tiefste Erkenntnis und äußerste Oberflächlichkeit, im Brahmanismus letzte Weisheit und grotesker Aberglaube; so hat ein gleicher Judengeist das Alte Testament und die schlimmste Gesetzesgerechtigkeit ersonnen; so sind die moderne Maschinenwelt und Johann Sebastian Bachs Musik gleich echte Kinder des Protestantismus.
Nur Tiefeneinstellung allein aber vermag die Welt der Werte dem Kosmos der Erscheinungen einzubilden; nur auf das Tiefe hin eingestellt — in der Sprache des Katholizismus: auf Gott hingeordnet — kann Oberflächliches in seiner Sphäre wertvoll erscheinen, denn nur dann ist es seinem eigenen Sinn gemäß richtig eingestellt. Und nun kommt die Hauptsache: die erforderliche Akzentverlegung können wir vollbringen, denn in der Dimension des Sinns herrscht reine Freiheit; hier hängt es von uns ab, was entsteht und was bestehen bleibt. Und jetzt begreifen wir ganz, weshalb Relativismus, in bezug auf die Erscheinung an sich die einzig sinngemäße Haltung, da deren Sosein überall kosmisch bedingt und insofern notwendig ist, uns Menschen kein letztes Wort bedeuten kann. Unser Wesenszentrum liegt nicht im Mittelpunkt des physischen Weltalls, sondern in dem des Geisteskosmos, welcher jenem eingebaut ist. Auch von unserem Standpunkt — nicht allein demjenigen Gottes — ist deshalb phänomenales Sosein niemals mehr als Sprache. Gott, lehrt die Kirche, steht alle Kreatur ursprünglich nahe, ob hoch oder gering, ob gut oder schlecht, ob schwarz oder weiß, gleichviel. Er fragt nur, welche Gesinnung ihre Eigenart zum Ausdruck bringt. Genau so steht es mit uns, so wenig wir’s bisher wissen; auch uns geht letztlich nur die Frage an, was in beliebiger Sprache gesagt wird. Deshalb bedeutet uns das jeweilig letzte Wort der Natur erst den Beginn der Aufgabe.
Wir dürfen letztlich nicht fragen, ob ein Ausdruck auf seiner Ebene als solcher berechtigt sei, sondern inwieweit er den gemeinten Sinn verkörpert. Und betrachten wir nunmehr die Welt des Menschen darauf hin, wie tiefer Sinn in ihr als Grundton wirksam ist und inwieweit Sinn und Ausdruck in ihren Gestaltungen sich entsprechen — dann müssen wir allerdings sagen: bisher gibt es mehr Häßliches als Schönes, mehr Falsches als Wahres, mehr Schiefes als Gerades auf dem Gebiet, das von uns Menschen abhängt. Während Natur, in ihrem Sosein am Ende, immerdar zugleich vollkommen in die Erscheinung tritt, wirkt in der Welt der Geschichte beinahe alles, vom Standpunkt der Sinnesverwirklichung, als ungelöstes Problem. Weder unsere Lebensgestaltungen noch unsere Weltanschauungen sind das, was sie sein könnten und sollten. So hat der Fortschrittsgedanke allerdings einen berechtigten Inhalt; nur einen anderen, als ihn das 19. Jahrhundert ihm verlieh. Es gilt nicht Irrtümer an sich zu widerlegen, sondern Sinn und Ausdruck zu besserer Kongruenz zu bringen2. Und insofern sprach die Kirche grundsätzlich wahrer, indem sie lehrte, dass das Häretische auszurotten sei, als jene Wissenschaft, deren Relativismus nur an Verstandesvorurteilen eine Grenze fand. Nur ist der Begriff vom Häretischen neu und schärfer zu formulieren: als Häresie zu verdammen ist jeder Ausdruck, der seinen Sinn nicht unverfälscht wiedergibt. Ein solcher aber ist nicht der vom Herkommen abweichende, sondern der vom Erkenntnisstandpunkt unhaltbare; und auf dem Gebiet des Lebens nicht der erscheinungsmäßig anders seiende, sondern der, dessen Gestaltung in ihrer Sprache das nicht ausdrückt, was sie letztlich meint.
So muss die unbedingte Toleranz, welche rechte Einsicht in den äußeren Weltzusammenhang in bezug auf jede Gestaltung als solche schafft, durch ebenso unbedingten Radikalismus in der Forderung ergänzt werden, dass jede Erscheinung den ganzen Sinn zum Ausdruck bringe, welcher hinter ihr steht. Die Kongruenz von Sinn und Ausdruck wird freilich immer nur in Funktion des Empirischen jeweilig zu definieren sein; daher die Überzeugungskraft des Orts- und Zeitgemäßen. Aber das örtliche kann auf die Dauer immer mehr zum Ausdruck des Universellen, das Zeitliche zu dem des Ewigen werden.
1 | Vgl. die Ausführung dieses besonderen Gedankens in der Vorrede zur Unsterblichkeit und meiner Abhandlung Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie in Logos I. |
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2 | Vgl. die nähere Ausführung der letzten Gedankengänge im Kapitel Das richtig gestellte Fortschrittsproblemin der Neuentstehenden Welt. |