Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
II. Die geistige Menschheitseinheit
Katholizismus
Wie ich zur Sonderbetrachtung des katholischen Problems überging, meinte ich die Idee des Katholizismus und dessen empirische Wirklichkeit nur insoweit, als sie den bestmöglichen Ausdruck einer möglichen übergegensätzlichen der Menschheit entsprechenden Weltanschauung verkörperte. Der Verlauf unserer Betrachtungen hat nun vielleicht den Anschein erweckt, als stände für mich die Voraussetzung, dass das Christentum die Welt zu erobern berufen sei, gar nicht in Frage. Wer den Geist und das bisherige Werk der Schule der Weisheit kennt, muss nun freilich wissen, dass ich’s nicht so gemeint haben kann; und wer gar den Eingangsvortrag zu dieser Tagung ganz verstand und in dessen Rahmen die übrigen Vorträge auf sich wirken ließ, von denen einer, gewiss nicht zufällig, einem Moslem übertragen war, der muss zum mindesten ahnen, wie das Problem des Katholizismus eigentlich für mich liegt. Immerhin habe ich dies noch nicht ausdrücklich ausgesprochen. Dieses Wichtigste zu leisten, liegt mir nunmehr ob. Der christliche Kosmos, wie er sich heute darstellt, ist ganz gewiss nicht der Menschheitskosmos. Vom Standpunkt des heute Gegebenen könnte die katholische Kirche, wenn sie sich entsprechend entwickelte, wohl die gesamte Christenheit, keinesfalls aber die Menschheit umfassen. Dazu ist sie nicht katholisch
genug. So weit sie sei — es kann ihr nie gelingen, die Kosmen der anderen großen Religionen dem ihren einzugliedern, denn diese enthalten Elemente, welche sie ausschließt und auch ausschließen muss, sofern sie bleiben will, was sie heute ist; vor allem aber ist zum mindesten der indische religiöse Kosmos weiter als der ihre. Brahmanismus und Mahāyāna-Buddhismus sind nicht nur beide katholisch
im grundsätzlich gleichen Sinn, wie der Katholizismus im orbis christianus: beide sind ökumenischer als dieser insofern, als sie jeden nur möglichen Protestantismus
ihres Glaubenskreises selbstverständlich in sich aufgenommen haben; ja beider Idee ermöglicht es sogar, jede andere höhere Religion als Wahrheitsausdruck gelten zu lassen. Inwiefern die also umschriebene Beschränkung der Möglichkeiten des Katholizismus tatsächlich unaufhebbar ist, geht aus den Erkenntnissen des Eingangsvortrags hervor.
Auch das Christentum als Sondergestaltung, gleich allen anderen, entspricht nicht allein einer besonderen psychologischen, sondern zugleich einer kosmischen Situation. Deswegen ist es in der Zeit entstanden, hat es im Lauf der Zeit epochale Wandlungen durchlebt, erscheint es in seiner Werbekraft an einen bestimmten Raum gebunden, innerhalb welches es seinerseits, dem Horoskop entsprechend, je nach der Landschaft differenzierten Charakter zeigt. In der Form des römischen Katholizismus und des Protestantismus ist es die Religion des Westens und dieses allein. Hier gilt es endgültig zu verstehen, dass eine Religion als lebendiges Verhältnis zum Ewigen niemals und nirgends aus seiner abstrakten Lehre, sondern einzig aus dem, was diese dem Bewusstsein bedeutet, verstanden werden kann. Damit erledigt sich die Frage nach der objektiven Wahrheit der Dogmen, sofern diese wissenschaftlich-historisch gestellt wird. Mag Jesus so absolut der Welterlöser gewesen sein, wie das positive Christentum lehrt, religiöse Bedeutung hat diese Tatsache genau nur insoweit, als der Mensch sie sich innerlich assimilieren kann — diese Möglichkeit ist aber an ganz bestimmte empirische Voraussetzungen gebunden. Unter anderen Konstellationen geborene Menschen müssen ihr Verhältnis zum Ewigen anders fassen als in christlichen Formen; anders ausgedrückt: gerade sofern sie religiös sind, können sie nicht Christen sein. Hieraus folgt denn, dass ich mit dem Satz, der römische Katholizismus stelle die übergegensätzliche Weltanschauung dar, nicht gemeint haben kann, dass sich die Menschheit zu ihm bekehren müsse und würde. Als bestimmter Christenglaube hat er, selbst wenn er allen Ansprüchen der Weltenstunde Genüge leistet, nur auf Heimholung der Christenheit Anspruch.
Ich habe in der Tat nicht gemeint, dass die ganze Menschheit einmal christlich werde würde. Ich habe aber Tieferes und Größeres gemeint, welches die mögliche Zukunft des Katholizismus großartiger erscheinen lässt, als seine zuversichtlichsten Vertreter heute zu hoffen wagen. Vorhin sagte ich, der katholische Kosmos sei enger als der indische. Dies gilt aktuell. Virtuell hingegen gilt das Gegenteil. Des letzteren Weite beruht zum Teil auf Negation oder Verzicht auf innere Entscheidung. Der Katholizismus nun will in der Kirche ein positives Sinnbild der einigen Menschheit schaffen, er will die ganze Welt heiligen, alles Einzelne auf Gott hinordnen. Dieser Anspruch der Idee einer Kirche ist nun nicht allein voll berechtigt, er ist notwendig. Und wie nah die katholische, in Gedanken wenigstens, wenn auch nicht in Taten, zu ihren besten Zeiten der Verwirklichung der Idee gekommen ist, beweist die Lehre von der außerkirchlichen Gnade (die nach griechischer Fassung auch die untermenschliche Welt betrifft) und von der Erlösungsfähigkeit aller, so guten Willens sind. Aus dem heutigen Katholizismus kann in der Tat die Weltanschauung der Menschheit hervorwachsen — nur muss er dann vollkommen Ernst machen mit seinem Anspruch auf Katholizität. Das heißt, er muss wirklich alles in sich hineinbeziehen können, nicht allein alle christlichen Konfessionen, sondern auch die nicht-christlichen. Beansprucht hat er dieses von jeher, in Form der Bekehrung; und wirklich bedeutete Bekehrung einmal das, worauf es auch heute ankommt. Heute bedeutet sie es nicht mehr. Auf der heutigen Bewusstheitsstufe können Name und Form
im früher förderlichen Sinne nicht mehr ernst genommen werden, denn sie werden von vornherein als Sinnbilder aufgefasst, und der Sinn ist ipso facto überkonfessionell. Deshalb muss heute die christliche Katholizität, um gleiches zu bedeuten, wie die Allumfassendheit der mittelalterlichen Kirche, das Nicht-Christliche, ohne die Erscheinung als solche anzutasten, in sich hineinbeziehen; in sich hineinbeziehen, nicht etwa bloß gelten lassen — hierin liegt der qualitative Unterschied von ihrem indischen Äquivalent, ein Unterschied, der zugleich Höherwertigkeit bedeuten würde. Nur in dieser buchstäblich allumfassenden Form ist eine katholische Weltanschauung im wahren Wortsinn ferner möglich.
Das Christentum muss einen Schritt weiter tun auf der gleichen Bahn, mit deren Antritt seine Weltsendung begann. Die ganze Bedeutung des Christentums liegt, aus dem Gesichtswinkel dieser Tagung betrachtet, im Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Denn dieses Gebot bedeutet nichts anderes als die für den Menschen erkannte und indizierte Möglichkeit, über seine äußeren Grenzen innerlich hinauszuwachsen und sein Selbstbewusstsein im Zusammenhang von Ich und Du zu zentrieren; es bedeutet damit eine tiefere Zentrierung im Menschheitskosmos, näher dessen Mittelpunkt, dem Konvergenzort aller Verschieden- und Abgeschiedenheiten zu. Jesus selbst wahrscheinlich, der Apostel Paulus in seinen katholischesten
Augenblicken sicherlich, sah im Nächsten nicht allein den Christen; letztere Beschränkung, die in der konfessionellen Bedingtheit der Erlösung noch heute kanonisch gilt, bedeutet in Wahrheit einen Rückfall ins Heidentum. Dieser war beim Geisteszustand, aus welchem alle gültigen Dogmen hervorgingen, wohl unvermeidlich. Heute ist er implizite erledigt. Heute, wo wir alle den Sinn jenseits des Buchstabens zu erfassen objektiv in der Lage sind, muss das christliche Prinzip der Carität ohne Einschränkung auch auf das Nicht-Christliche ausgedehnt werden. Heute bedeutet es die gleiche Lieblosigkeit, welche das Christentum am Heidentum bekämpfte, wenn das Nichtchristliche weiter aus dem Christenkosmos ausgeschlossen bleibt. Heute muss insofern ein Schritt weiter in der Liebe getan werden. Das ist die religiöse Aufgabe der Stunde. Deren Lösung hat der Protestantismus geistig vorbereitet. Hierin, nicht in der Wiederbelebung des ursprünglich evangelischen Gedankens, liegt sein wahres religiöses Verdienst. Kann aber der Katholizismus sich dergestalt erweitern? Grundsätzlich gewiss. Um dahin zu gelangen, braucht er an seinem Buchstaben unmittelbar nichts zu ändern. Er muss nur seine Daseinsebene in eine andere Region verlegen; von der Fläche der bestimmten Erscheinung fort in das Reich des Sinns.