Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Spannung und Rhythmus

Entstehen und Vergehen

Wenn die moderne Naturforschung zu einem gesicherten Ergebnis geführt hat, so ist es dies, dass es Ruhe in dem eindeutigen und absoluten Sinn, in dem der unreflektierte Normalmensch ihren Begriff versteht, nicht gibt, und dass Bewegung das letzte Unzurückführbare aller Wirklichkeit ist; dies deshalb, weil nicht Materie, sondern Kraft im weitesten Verstand ihre letzte Instanz darstellt. Der scheinbar festeste Körper ist in Wahrheit ein System in rasender Eile schwimmender und rotierender Partikel, welche ihrerseits nichts anderes als Energiezentren sind; die Bewegung, die sich nicht grob sinnlich translatorisch äußert, ist trotzdem Bewegung, nur einem geschlossenen Ganzen eingefügt und daher nach außen zu als Spannung dargestellt. Worauf beruht es nun, dass statische Dauerzustände, angesichts der Unaufhebbarkeit der Bewegung als solcher, überhaupt möglich sind? Es beruht darauf, dass die Natur in geschlossene Systeme gegliedert in die Erscheinung tritt und möglicherweise — dies lassen wir hier dahingestellt — als Ganzes letztlich ein geschlossenes Ganzes darstellt. Aus der Geschlossenheit jedes Systems ergibt sich jener Charakter harmonischer Ordnung, die schon den Griechen am Sternenhimmel auffiel. Wohl ist der Weltprozess, soweit er leblos ist, kein Gerichtetes; es trifft an sich nicht zu, dass das ursprüngliche Chaos, wie noch Kepler meinte, dem Kosmos zustrebe, denn die Natur ist immer gleich vollkommen geordnet; die großen Gesetze der Mechanik erscheinen in jedem Zustand gleich unbedingt befolgt. Aber allerdings müssen sich alle zunächst rein eigensinnig und vom Standpunkt eines geschlossenen Ganzen sinnlos gerichteten Kräfte, sobald sie sich diesem einfügen, harmonisch-sinnvoll anordnen, denn hier ist ein Dauerzustand nur möglich auf der Grundlage harmonischer Ausgeglichenheit. So mündet jede einzelne Bewegung, die einem geschlossenen Ganzen angehört, welche diesem nicht entfliehen und sich nicht in andere umsetzen kann, letztendlich in eine rhythmische ein. Deshalb sind Spannung und Rhythmus die Grundattribute jedes geschlossenen Systems in der Natur. Aber jedes geschlossene System stellt insofern, soweit sein eigenes Gesetz entscheidet, ein Ende dar. Aus sich heraus ist es veränderungsunfähig, denn alle Bewegungen sind in harmonischem Kreislauf festgefahren. Der Normalzustand der dem Menschen harmonisch erscheinenden Natur entspricht infolgedessen dem, was vom Standpunkt des Lebens — tot ist. Wer die Harmonie der Sphären als Idealzustand ansieht und diesen gar dem Lebendigen vorhält, der bekennt folglich den Tod als Lebensideal.

Hieraus ergibt sich denn ganz von selbst, als Gegenbild, das richtige Bild vom Leben. Dieses ist ein Jenseits der Natur im obenbeschriebenen Verstand. Es verhält sich zu ihr wie der Sinn zum Ausdruck, wirkt von dessen Standpunkt als immer erneutes Wunder. Es besteht, technisch betrachtet, im Beleben der Erscheinung von einer Dimension her, welche, dieser fremd, bildlich gesprochen, zu deren spezifischen Dimensionen senkrecht gerichtet verläuft, von innen nach außen zu. Dieses Beleben ist seinerseits ewige Bewegung, deren Stillstand undenkbar ist, solange das Leben überhaupt besteht, nicht anders wie im analogen Fall der Musik, nur eben eine Bewegung metaphysischen Ursprungs. Und das Leben als Leben kann überhaupt nicht sterben, da es, als Sinn, einer Ebene des Wirklichen angehört, auf welcher die Begriffe von Entstehen und Vergehen des Inhalts entbehren; hört es jeweilig auf, so ist es aus der Erscheinung nur herausgetreten, wie eine Wahrheit nur verlorengeht, nicht aber zu gelten aufhört, wenn ihr Begriff den Menschen abhanden kam. Nun gehört der jeweilige Ausdruck des Lebens andererseits durchaus dem Naturreich an. Wo immer es in Erscheinung tritt, erweist es sich an dessen Material und Normen unbedingt gebunden, genau wie der Dichter an die der angewandten Sprache gebunden ist. Deshalb gleicht seine Phänomenologie derjenigen der unbelebten Natur durchaus, wo immer sein Verlauf nach den Kategorien von Masse und Bewegung im Rahmen eines geschlossenen Ganzen zu begreifen ist.

Auch hier ist alles Spannung und Rhythmus; jedweder Organismus, von der Einzelzelle bis zum Organ, bis zum Menschen und schließlich dessen Gemeinschaftsformen, bezeichnet, rein äußerlich betrachtet, ein besonderes Gravitationssystem, welches seinerseits in weitere hineingehört; die Periodizität der Geschichte entspricht der des Gestirnumlaufs und der Jahreszeiten; die Macht der Führer, die werbende Kraft der Völker, die Durchschlagskraft der Ideen sind Spannungsphänomene. Nur bezeichnet das natürliche Gleichgewicht im Fall des Lebens nie die letzte Instanz. Erstens erschöpft sich dessen Sinn niemals im Tatbestand, welcher allemal nur das Ausdrucksmittel bedeutet; zweitens schafft jener von sich aus Zusammenhänge — eben die spezifisch organischen —, die gegenüber den anorganischen Mannigfaltigkeiten höherer Ordnung darstellen; drittens präjudiziert das Schicksal der Natur ebendeshalb nichts über das des Lebens. Grundsätzlich gilt vielmehr das Gegenteil: wie deren Stoffe und Kräfte vom Organismus, in welchen sie eingehen, jeweilig Sinn und Richtung erhalten, so kann — um den allgemeinen Tatbestand am extremsten Beispiel ganz deutlich zu machen — nur Leben, falls unsere Welt einen Anfang hat, ihr den Anstoß zur Entwicklung gegeben haben, denn dem Unlebendigen ist Initiative fremd; so kann Leben allein von innen heraus überhaupt einen nahen oder erreichten Endzustand in einen neuen Anfang umwandeln. Leben ist wesentlich Initiative; es ist die Gegen-Wirklichkeit gegenüber der toten Natur, die wesentlich Trägheit ist. Im Fall des Lebens kann sich deshalb Bewegung, solange sie dauere, sosehr sie sich in ihren Elementen harmonisiere, keinesfalls im Kreislauf festfahren, denn hier erfährt sie, von metaphysischer Kraftquelle her, immer erneute Beschleunigung. So bezeichnet der Tod zwar auch hier das natürliche Ende der Entwicklung jedwedes geschlossenen Systems, als welches alles Materialisierte sich darstellt. Aber das Ende bedeutet hier gleichzeitig die Schwelle zur Wiedergeburt. Und diese ist ihrerseits nie lediglich Wiederholung, sondern zugleich Erneuerung: jede Geburt eines äußerlich gleichgestalteten Leibes setzt eine nie dagewesene Monade in die Welt. Leben ist wesentlich unsterblich. In empirischem Zusammenhang ist hier deshalb nicht Spannung und Rhythmus überhaupt, sondern dessen unendlicher Prozess das Urphänomen. Schauen wir jetzt abschließend diesen Tatbestand mit dem der Werte zusammen, an denen sich Menschenstreben von jeher orientiert hat, und konstruieren von hier aus das allgemeine Lebens-Ideal. Da gelangen wir denn unausweichlich zum folgenden Schluss: nur fruchtbare, Bewegung fortleitende, das Versprechen eines Höheren enthaltende Vollendungszustände sind dem Sinn des Lebens gemäß. Dessen Ideal lässt sich statisch überhaupt nicht, nur allenfalls dynamisch als ein ewiger Zustand unaufhaltsamer Steigerung bestimmen, welche zwar Richtung und Sinn hat, jedoch keine Grenzen kennt.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Spannung und Rhythmus
© 1998- Schule des Rades
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