Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Werden und Vergehen

Weg des Lebens

Sie werden mir jetzt wohl zugeben, dass die Betrachtung des Bildes der Musik dem Verstehen des Lebensganzen näherbringt, als durch begriffliche Bestimmung zu erreichen wäre. Diese führt, ihrem eigensten Gefälle nach, von der Ursynthese ab, sie hat in sich kein Motiv, um beim wirklichen Endpunkt sinnvollen Abstrahierens stehenzubleiben. Und ist die Grenze auch freilich zu bestimmen, von der ab gegebene Begriffe versagen müssen, so ist doch gerade dieser Weg zur Evidenz — und Evidenz ist das eine vitale Ziel alles Beweisens — für alle, außer wenigen Spezialisten, der wenigst sichere: er bewirkt kein Einleuchten. Unter allen Umständen grenzt die Logik nur den Weg ab des Geistig-Wirklichen. An sich selbst blind, muss sie von Wesensschau gelenkt werden, um dorthin zu führen, wohin der Blick des unbefangenen Auges ohne Vermittelung dringt. Denn das Tiefste, dem Begreifen schwerst zu fassende, das unmittelbar-wirkliche Leben ist andererseits die Evidenz selber; seine intellektuelle Paradoxie bedeutet dem spontanen Verstehen, das ein entsprechendes Gleichnis auslöst, kein Hindernis.

Gehen wir deshalb, am gleichen Sinnbild der Musik, dem zeitlichen Weg des Lebens mehr ins Einzelne nach. Dessen Sinneszusammenhang verwirklicht sich in der Tat in vollkommener Analogie zum Wege der Musik. Es ist die gleiche Sonderart des Polaritätsgesetzes, das hier wie dort die ganze Dynamik beherrscht. Aufstieg und Abstieg, fugenartiges Gegenspiel, Diskant und Baß, Dur und Moll, Dominante, Grundton, Ober- und Untertöne sind Begriffe, die sich auf den Lauf des Lebens ohne Umdeutung übertragen lassen. Das Verhältnis seiner Plus, und Minusseite, deren Polarisierung erst jenen ergibt, handele es sich um Führer und Volk, Mann und Weib, ursprüngliches Weltgefühl und dessen Folgen an der Erscheinung der Oberfläche, Vergleich und Krieg, Fortschritt, Differentiation und Integration, findet im Musikalischen sein treues Spiegelbild. Nicht anders steht es mit dem Rhythmus hier wie dort, insonderheit der rhythmischen Wiederholung. Bei solcher kehrt niemals dasselbe wieder, sondern unter der Maske eines äußerlich Gleichen greift Neuwirkendes und folglich Neues jedesmal in die Erscheinung ein; in jedem neuen Zusammenhang hat das gleiche Motiv einen neuen Sinn. Daher bietet auf geschichtlichem Gebiet die Spirale, nicht der Kreis, das der wirklichen Entwicklung gemäße Sinnbild; deshalb lässt sich an deren noch so rhythmisch ablaufender Folge wohl Ana- und Homologes, aber nie Identisches feststellen. Wenn man nicht logisch insistiert, sondern das Bild nur zur Verdeutlichung verwendet, wozu allein es taugt, so darf man geradezu von einem Gesetz des historischen Kontrapunktes reden, das dem alten Erfahrungssatz, dass alles anders komme, als man denkt, einen tieferen Sinn gibt.

Wieder und wieder haben die Besiegten die Sieger faktisch besiegt: Roms Triumph führte zur Hellenisierung des damaligen Erdkreises, der des Islams in Persien zur Vorherrschaft des Persergeists. Überall hat den Friedfertigen auf die Dauer das Erdreich gehört, schon allein, weil sie allein im Lauf der Kämpfe nicht ausgerottet wurden. Der vollkommene Sieg des demokratischen Gedankens im Quantitätssinn, welchen der Weltkrieg bewirkte, ist recht eigentlich die Ursache dessen, dass eine qualitativ geordnete Welt schon mitten im Geborenwerden ist. Wenn eine Bewegung ihr Ziel erreicht hat, ist sie eben zu Ende. Damit komme ich denn zum Urkontrapunkte alles Lebens: dem Tod. Schöpferische Entwicklung endet allemal in vollkommenem Stillstand. Bei diesem aber handelt es sich um keine Sinnlosigkeit, sondern eben den spezifischen Sinn eines kontrapunktischen Verhältnisses. Jede Melodie ist endlich, ihre Vollendung bedeutet zugleich ihr Ende; und auf einen Höhepunkt kann musikalisch sinnvoll nur Abklingen und Schweigen folgen. So fallen Liebe und Tod bei vielen Lebewesen zeitlich zusammen. So wirkt Isoldens Liebestod auf jeden als sinngemäß. Wo aber die Lebensmelodie des Einzelnen einen Ton einer größeren darstellt, dort ist aus dem gleichen Zusammenhange klar, dass das überbetonen einer Note ihr Verklingen verlangt. So folgt auf Übererhöhung Sturz. Doch nach dem gleichen Gesetz führt freies Opfer zum Sieg. So oft ein Heros fiel, war es vom Standpunkt seiner Feinde zu spät. Jesu Kreuzestod war die Ursache des Sieges des Christentums.

Betrachten wir nun aber den Weg des Lebens, am Sinnbilde der Musik, ganz allgemein, dann gilt der Satz: er führt notwendig durch Dissonanzen hindurch. Die ganze Tonleiter, auf einmal angeschlagen, ergibt einen greulichen Misston. Das Interesse des Ohrs für die Folge der Töne wird äußerlich dadurch aufrechterhalten, dass diese ein unaufhörliches Entrinnen bedeutet aus möglicher unerträglicher Gleichzeitigkeit. Andererseits wirkt Harmonie nur als Auflösung oder Erlösung von Missklängen beglückend, muss jede Lösung ihrerseits, solang das Ganze nicht am Ende ist, in Ungelöstes einmünden, denn nur als Bewegung und Bewegtheit existiert Musik. So ist auch das Leben nur als erlebte Bewegtheit sinnvoll sowohl als überhaupt faktisch möglich. Das Sprichwort sagt, es sei nichts schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.

Ohne immer wiederkehrendes Leiden gäbe es kein Glück. Das Leben ist wesentlich ein labiler, kein stabiler Gleichgewichtszustand, jede Gleichgewichtsstörung jedoch bedeutet Leid. Hier wurzelt der Wahrheitsgehalt von Buddhas Leidenslehre. Wo sich nun geistiges Werden dem bloß biologischen einbildet, dort verschärft sich das gleiche Verhältnis. Wo die Veränderung, die jedes Werden und Vergehen einschließt, zum Aufstieg wird, wo keine Anpassung endgültig ist und jedes eingefahrene Geleise alsbald wieder verlassen wird, da ist Gleichgewichtsstörung, nicht Einklang der Lebensprozesse, das Urphänomen. Denn nur Störung oder Zerstörung eines bestehenden Zustands kann ja höheren zuführen. So wird der Mensch immer mehr krankheit- und leidbehaftet, je höher er sich erhebt. So wird er in seinem Bewusstsein immer unvollkommener. Er wird, als geistig-seelisches Wesen, immer schuldiger, immer sündiger, einen Dauerzustand von Freude und Glück erreicht er immer schwerer. Nicht umsonst wird das Bild des Paradieses in die ersten Tage der Menschheit zurückverlegt, herrscht heute paradiesisches Wohlbefinden nur mehr unter solchen, die sich zu reinen Naturwesen zurückentwickelt haben. Wenn also das Leben an sich schon ohne Krankheit und Leid undenkbar ist, so schreitet der strebende Mensch unmittelbar von Krankheit zu Krankheit, von Sünde zu Sünde, von Schuld zu Schuld, von Krise zu Krise fort. Nur Zerstörung ermöglicht eben Erneuerung, nur Leiden führt zur Erlösung. Der Sinn des Einzelnen jedoch ist immer erst vom Ganzen her zu übersehen. So sind die Akten der Geschichte nie geschlossen. Erst das Endergebnis zeigt, was jedes Ereignis letztlich bedeutet hat. So ist der Sinn der Einzelphase auch jedes Einzellebens dann erst zu erkennen, nachdem es vollendet vorliegt. Hierauf beruht, um das Letzte zu sagen, der Glaube, dass eine Bekehrung in extremis ein Leben der Sünde loskaufen kann. Was Abkehr von Gott schien, mag sich zuguterletzt als Umweg zu ihm erweisen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Werden und Vergehen
© 1998- Schule des Rades
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