Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Geschichte als Tragödie

Reich der Freiheit

So viel gilt allgemein. Doch wer erkennte nicht sogleich, dass die allgemeine Antwort das bestimmte Problem der Geschichte nicht erschöpft? Gegen den Stoffwechsel fühlen wir kein inneres Widerstreben, denn unser bewusstes Leben verläuft oberhalb von ihm. Auch das Werden und Vergehen auf der Ebene der Biologie akzeptieren wir instinkthaft, denn hier ist die Gattung Subjekt, und mit den Gattungstrieben, die einen großen, in seiner Bedeutung meist unterschätzten Teil alles Seelenlebens ausmachen, bejahen wir den zeitgemäßen individuellen Tod; so empfindet kein naturhafter Mensch und insofern kaum eine Frau das Ende der Eltern und den Tod des Geliebten als widersinnig. Anders steht es mit dem Geschichtsprozess. Dieser verläuft oberhalb der physiologisch-biologischen Reihe. Hier bringt das Werden und Vergehen, die Urform alles Lebens, einen anderen Sinneszusammenhang zur Darstellung; hier strebt bewusster Geist durch dasselbe hindurch nach Selbstverwirklichung; hier drängt Kulturwille zum Ausdruck. Dies führt zur Schöpfung als ewig gedachter, nur ewig zu denkender Werte, die auf der Ebene der Natur nicht existieren, auf derjenigen der Geschichte jedoch das letztlich Wirkliche sind. Diese Ebene ist weiter ein Reich der reinen Freiheit, insofern allein das Freigewirkte geschichtlich ist1. Und die Freiheit ist ihrerseits das Ausdrucksmittel einziger Subjekte, deren Einzigkeit ihre letzte Instanz bedeutet.

Damit nun gewinnt das Bild des Lebens, als eines unaufhaltsamen Prozesses von Werden und Vergehen, auf der Ebene der Geschichte einen ganz besonderen Charakter. Wenn im zeitlichen Prozesse ewige Werte vernichtet werden, so liegt darin ein unbedingter Einwand gegen das Leben. Wenn der Einzige, dessen Dasein Geschichte allererst ermöglicht, denn sie enthält nur Einmaliges, vom Schicksal als Element behandelt wird, so scheint das sinnwidrig. Wenn Freiheit an äußerer Bindung scheitert, so scheint das unsinnig. Wenn sie, nicht Notwendigkeit, hier das Werden und Vergehen regiert, dann ergibt dies Verantwortung und im Falle jedes schlechten Ausgangs Schuld. Auf historischem Gebiet kommt kein Ereignis von selbst: irgendein frei wollender Mensch bewirkte es. Manchmal scheint mir, Institutionen, Behörden usw. seien nur aus Feigheit erfunden worden, um dem Menschen ein fiktives Mittel an die Hand zu geben, sich seine tatsächliche Verantwortung mit gutem Gewissen nicht einzugestehen. Wer als Glied eines Gremiums ein Todesurteil fällt, glaubt insofern ehrlich, nicht er persönlich hätte eines Menschen Tod beschlossen. Wer eine amtliche Verordnung unterschreibt, bildet sich meist ein, nicht er persönlich sei dadurch innerlich haftbar geworden für die Folgen. Der ganze Pflichtbegriff erscheint von hier aus als Deckmantel der Feigheit. Tatsächlich liegen die Dinge immer so, dass, wer eine Pflicht erfüllt, die seinem Rechtsbewusstsein nicht entspricht, vor der Ewigkeit doppelte Verantwortung trägt, denn da tritt zur objektiven Fehlleistung noch die Sünde wider den Heiligen Geist hinzu. Damit ist denn eine unauflösbare Antinomie zwischen dem Einzigen und dem Ganzen, dem er jeweils zugehört, für das Bewusstsein ein für allemal gegeben. Als geschichtliches Wesen fühlt sich der Mensch als Einzelton, der seinen Eigenwert kennt und über der Anerkennung der Tatsache, dass sein Verklingen der Melodie dient, nie vergessen kann, dass eben er stirbt und von seinem persönlichen Standpunkt sinnlos stirbt. Und als tiefste Ungerechtigkeit muss er die Wahrheit empfinden, dass seine Schuld persönliche Schuld bleibt, was immer sie dem großen Ganzen nütze; dass seine Verantwortung bestehen bleibt, auch wo sie ihm Opfer war; dass nichts, was sich vom Standpunkt der Gemeinschaft für ihn sagen lässt, den Einzigen je entlastet. Denn so ist es. Hier liegen die Dinge genau so grausam hart, wie sie im Goethe-Verse von den Göttern geschildert stehen:

Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Der Sinn der Geschichte, sofern sie einen hat, trägt auf alle Fälle furchtbaren Charakter. Doch blicken wir nun zurück, so wird uns gerade an diesem Punkt ganz klar, dass die Geschichte uns, man beweise dagegen, was man wolle, sinnvoll erscheint. Gerade ihr Furchtbares bejaht der Mensch.

Der Anblick historischen Leidens drückt nicht herab, sondern steigert. Nur dem Gemeinen ist das Leidvolle als solches letzte Urteilsinstanz. Instinktiv bejaht jeder Mensch das Selbst-Opfer. Und damit wären wir denn an die Schwelle des Verstehens des Sondersinnes der Geschichte gelangt. Das Opfer bedeutet den größten Freiheitsbeweis. Wir bejahen vor allem das Opfer, weil wir wesentlich frei sind. Die ganze Geschichte nun gehört dem Reich der Freiheit an, das sich durch das biologische Werden und Vergehen hindurch manifestiert, und daraus folgt, dass das Werden und Vergehen im Fall der Geschichte dem Sinneszusammenhang eingeordnet ist, den wir Tragödie heißen. Weil dem so ist, und weil wir wesentlich geschichtlich sind, so dass die Tragödie unser eigenstes Element bezeichnet, ebendeshalb erhebt uns ihr Abbild im Trauerspiel. Nicht dass die Wirklichkeitsdeutung das Abbild des Spieles wäre.

1 Näher ausgeführt stehen diese Gedankengänge im Aufsatz Vom Interesse der Geschichte in Philosophie als Kunst.
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Geschichte als Tragödie
© 1998- Schule des Rades
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