Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Geschichte als Tragödie

Die neuentstehende Welt

Die Geschichte ist also unabwendbar Tragödie. Dass wir sie eben darum bejahen, dass Kinder, die Triebwesen, allein einen glücklichen Ausgang aller Dinge überhaupt wünschen, dass der Glückspilz noch keinem zum Vorbild ward, dass gerade der Jüngling, der wesentlich Strebende, aufrichtig nur den tragischen Helden verehrt und dementsprechend leichter in den Tod geht als der Alte, muss aus der Zusammenschau unserer heutigen Betrachtungen mit denen des Eingangsvortrags grundsätzlich als sinngemäß einleuchten. Doch noch nicht ganz. Das bloße Dasein der Freiheit inmitten eines übermächtigen Kosmos erklärt zwar die Unabwendbarkeit der Tragik, gibt aber dem Herrschaftsstreben jener keinen letzten Sinn. Denn wenn der Mensch wirklich die Tragödie zutiefst bejaht und damit den eigenen Untergang, so muss er persönlich, als freies Subjekt, oberhalb ihrer wurzeln. Wäre dies nicht der Fall, das Leben bliebe letztlich dennoch sinnlos. — Die letzte Antwort, welche die Sinnwidrigkeit, die in der Tat in der Tragik als letztem Wort beschlossen läge, aufhebt, wird auf der Grundlage der folgenden Tagungsvorträge mein Schlusswort geben. Dieser Vortrag ist gerade als Dissonanz, die nach Lösung schreit, in die Gesamtmelodie der Tagung hineinkomponiert.

Heute nur noch ein konkretes Beispiel, welches die Sinngemäßheit der Geschichte als tragischen Prozesses innerhalb der Grenzen einer bestimmten Komposition besonders deutlich zeigt. Wir haben den Vorzug, eine der größten Tragödien aller Zeiten als Handelnde mitzuerleben. Der Fortschrittsoptimismus eines Jahrhunderts, das ohne Zweifel nicht nur äußerlich-technisch, sondern auch vom Humanitätsstandpunkt so viel geleistet hat, dass es auf unbegrenzte Fortentwicklung im gleichen Sinn zu hoffen berechtigt schien, ward durch den grausigsten aller Kriege ad absurdum geführt. Dieser setzt sich fort in revolutionären Konvulsionen solchen Ausmaßes, dass sie direkt oder indirekt vernichten müssen, was an verjährten Werten dem Kriege irgendwo noch widerstand. Und als Resultante aller Einzelprozesse erweist sich, trotz sozialistischer Regierungen, Abrüstungsplänen und Völkerbund, das Ende des Humanitätsideals und der durch dieses bestimmten Geschichtsepoche. Also das Ende gerade dessen, in dessen Zeichen alle Völker in den Krieg zogen.

War schon der Krieg als Ausklang des Fortschrittszeitalters ein großartiges Beispiel vom Gesetz des historischen Kontrapunkts, so sind es die Kriegsfolgen erst recht. Die neuentstehende Welt — sie entsteht gleichsinnig auf dem ganzen Planeten — ist nahezu entgegengesetzten Geistes als die alte, wie ihre rechten und linken Flügel-Vortrupps, die Faszisten und Bolschewisten, überdeutlich zeigen: sie ist antihumanitär, nationalistisch, heroisch, ehern, auf Qualität, nicht Quantität bedacht, autoritätsgläubig, antiparlamentarisch, besonders antiliberal im, weitesten Sinn1. Die Idealisten des Weltkriegs haben also umsonst gekämpft. Und ihre Enttäuschung, sofern sie den Tatsachen ins Auge zu blicken wagen, ist um so größer, als unmittelbar Gemeinheit überall gesiegt hat. Das grandios-groteske Sinnbild dieses Sachverhalts bleibt der Versailler Vertrag. Ich verstehe die Deutschen nicht, die in der Bekämpfung der Kriegsschuldlüge nicht eine rein praktische Aufgabe, sondern eine solche tragischen Heldentums erblicken: bei jenem Jüngsten Gericht in Klubsesseln, das zu Versailles tagte, das ein als glänzend vorausgesetztes Geschäft auf dem erpreßten Geständnis einer moralischen Schuld seitens des besiegten Gegenspielers juristisch aufbaute, handelt es sich um etwas so unwahrscheinlich Komisches, dass sich die kommenden Jahrtausende deshalb, so oft sie dessen gedenken, den Bauch halten werden.

Und doch fühlen wir alle: die Kriegsopfer waren nicht umsonst. Und der Schuldgedanke, so missverständlich er sei, hat einen tiefen Grund. Was Deutschland betrifft, so hat es seit 1890 ununterbrochen Selbstzerstörung betrieben, mit nachtwandlerischer Sicherheit jeden außenpolitischen Fehler begangen, der seinem Ende zuführen musste. Folglich wollte sein Unbewusstes den eigenen Untergang. Folglich wollte es die Fehler gar nicht vermeiden, die schließlich den Weltkrieg auslösten. Es gibt keine immer wiederkehrenden Fehlhandlungen, die nicht eine Absicht ausdrückten. Und denken wir von hier aus an den Seelenzustand kurz vor dem Kriege derer zurück, die eine bessere Zukunft im Sinne volleren und größeren Lebens herbeisehnten: war auch nur einer von ihnen befriedigt? Wünschten wir nicht alle das Ende des Alten herbei, weil wir fühlten, dass es ohne Unstetigkeitsmoment in der Entwicklung nicht mehr besser werden konnte? Insofern haben wir alle den Krieg tatsächlich gewollt. Und, wenn wir nun heute auf das durchlebte Furchtbare zurückblicken, so müssen wir anerkennen: ohne dieses wäre die Neuordnung der Welt, die heute im Gange ist, unmöglich gewesen, denn die Mächte der Vergangenheit, in jeder Seele mitwaltend, waren gar zu stark. Und was Gemeinheit betrifft: wäre sie nicht allerorts herausgekommen, wären die großen Worte des Kriegsanfangs und -endes durch die Tatsachen nicht gründlich widerlegt worden, jene lebte noch heute in der Verdrängung, und ein Besser-Werden erschiene ausgeschlossen.

Das Zerrbild, als welches jedes kriegführende Volk den Gegner sah, war ja in Wahrheit das übertragene eigene Unbewusste. Und so war auch der niederträchtige Frieden genau so, wie er unser aller wahrem Zustand entsprach. Aber ebendeshalb kann es fortan besser werden. Was einmal herausgestellt ward, wirkt nicht mehr schöpferisch in den Seelen fort. Und so ist es nicht schade, dass die alten Ideale unverwirklicht blieben — sie waren schon sterbend, als sie 1914 proklamiert wurden. Was jetzt entsteht, so unerwartet es komme — dieses ganz Neue ist erst das, was wir alle wirklich meinen, weil es den wirklich vorhandenen lebendigen Kräften in uns entspricht. Wenn die Idee humanitärer Vergesellschaftung der Völker, auf der Basis des Gleichheitsgedankens und des inneren Werts der Zahl, verendet, so tut sie’s zum besten der Menschheitsökumene, welche ein Lebendigeres bedeutet als alles, was das Zeitalter der Aufklärung, das letzte ideenschöpferische vor dem jetzt entstehenden, erdacht. Folglich bejahen wir alle innerlich das Leid dieser großen Zeit. Wir bejahen es, wie man Geburtwehen bejaht. Und wir bejahen auch unsere eigene bittere Schuld, denn wir erkennen sie als tragische Schuld. So beweist eigenes Erleben uns allen, dass die Geschichte tatsächlich Tragödie ist. Es beweist eben damit, dass das Geschehen der letzten zehn Jahre Sinn hatte. Und betrachten wir von hier aus das Bild des deutschen Volks, das im Tun und Erleiden den Vorkämpfer dieser Weltenwende darstellte, so überkommt uns kein Gefühl der Demütigung, sondern des Stolzes: Mittelpunkt der Tragödie ist immerdar der Held2.

1 Näheres hierüber steht, abgesehen von der Neuentstehenden Welt, in den Aufsätzen Das dritte Italien und Eine Vision der kommenden Weltordnung im 8. und 10. Heft des Wegs zur Vollendung.
2 Auf der Tagung folgten auf diesen Vortrag die folgenden:
  • Hans von Hattingberg Zwischen Leben und Tod,
  • Paul Dahlke Samsara und Nirvana,
  • Leo Baeck Tod und Wiedergeburt,
  • Nikolai Arseniew Auferstehung.

Im Leuchter 1925 (Werden und Vergehen) nachzulesen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Geschichte als Tragödie
© 1998- Schule des Rades
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