Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
III. Tod und Ewigkeit
Welt des Sinnes
Wenn Sie sich heute auf den Eingangsvortrag zurückbesinnen, so werden Sie wissen, inwiefern das seither gehörte konkret-Besondere den damals abgesteckten allgemeinen Rahmen füllt. Auf allen seinen Ebenen ist das Leben ein zeitlicher Prozess, der nur wird, insofern er er zugleich entwird. Überall geht Leben aus Tod hervor, geht es in Sterben wieder ein. Stoffwechsel ist universelles Lebensgesetz. Gleichzeitig aber ist er nirgends letzte Instanz. Wie jeder anklingende und verklingende Ton zugleich Bestandteil einer vorher bestehenden zeitlichen Melodie-Einheit ist, so gehört alles Leben und Sterben in Sinneszusammenhänge hinein, die dem Einzelnen gegenüber den Charakter des a priori tragen. Dies gilt schon auf der niedersten Ebene der physisch-organischen Entwicklung. Schon dort erscheint das Einzelwerden überall von einem vorherbestehenden Ganzen gelenkt, wie im Fall der zerteilten, der Hälfte sonst nötiger Zellen verlustig gegangenen Seeigellarve, welche trotzdem zur Vollgestalt erwächst. An der Dämonenwelt der Triebe, die Psychoanalyse erforscht, erweist sich Gleiches: hier liegt Intentionales aller faktischen Äußerung zugrunde; das heißt, allgemeiner ausgedrückt: ein einheitliches Leben besteht durch alles triebhafte Sonderleben und -sterben hindurch.
Auf der Ebene der Geschichte erleidet das wiederum gleiche Urphänomen eine Dimensionsverschiebung: dadurch, dass freies, werteschaffendes Wollen hier bestimmt, dessen Subjekt der einmalig-Einzige ist, und dass der Sinneszusammenhang der Geschichte dessen Untergang allemal miteinschließt, stellt sich Geschichte unabwendbar als Tragödie dar. Doch gedenken wir nun, von der Anschauung des Historischen ausgehend, des Buddhas allgemeinerer Lebensschau, so dürfen wir über die Ergebnisse des dritten Tagungsvortrags hinaus behaupten: das Leben jedes Menschen ist tragisch, soweit er Geist- und Wertbewusstsein hat. Kein Wesenskonflikt ist lösbar. Wenn ein Leben notwendig auf Kosten anderer verläuft, wenn es unmöglich ist, ohne Schuld auf sich zu laden, fortzuschreiten, wenn jedes Kind sich, um seine Bestimmung zu erfüllen, von seinen Eltern loslösen und dabei, wie immer es sich stelle, undankbar erweisen muss, so bedingt schon dies triviale Schicksal tragische Schuld. Deshalb fühlt jeder Heilige sich zuerst und zuletzt als Sünder. Seine Gewissensfeinheit lässt ihn am Unvermeidlichen stärker leiden als der Verbrecher, der seelisch Stumpfe, an einem vorbedachten Morde leidet. Insofern ist Leben wirklich, das heißt nicht nur tatsächlich, sondern wesentlich, Leiden, genau wie der Buddha lehrte. Die Tragödie ist, von seinem Standort aus betrachtet, nur ein Sonderausdruck des allgemeinen Leids. Jeder mag anders fühlen. Anders zu denken ist ohne Blindheit aufrichtig nur unter der Glaubensvoraussetzung möglich, dass das Leben, wesentlich heteronom bestimmt, auf sicherem Gnadengrunde ruht und auch das Schlimmste von höherer Macht nicht nur zum Besten, sondern zum späteren desto Glücklicherwerden jedes Einzelnen verhängt wird. Wie unsicher aber diese Voraussetzung geworden ist, beweist die Angst derer, die sie noch anerkennen, vor Denken überhaupt.
Im Zusammenhang illusionsfrei überschaut, seinem empirischen Sinne nach begriffen, ist Leben wirklich wesentlich Leiden und nichts anderes. Und wer dies verstand, der muss auch, wohl oder übel, Buddha zugestehen, dass seine Erlösungslehre allein, sofern Tatsachenbewusstsein als letzte Voraussetzung anerkannt wird, zu einer Aufhebung des Leidens führt: sie lehrt nämlich den Lebenstrieb und damit die Leidensmöglichkeit an sich zerstören. Wer aus dem Kreis des Lebens heraustritt, der allein, lehrt Buddha, kann dem Leid entrinnen. Dass nun eine Abtötung der Leidensfähigkeit in diesem Leben in hohem Grade möglich ist, hat Erfahrung tausendfach bewiesen. Bei Buddhas Lehre, dem Höchstausdruck möglicher Psychoanalyse, handelt es sich zweifelsohne um das klarstgeschaute und deshalb wirklichkeitsgemäßeste, das klarstdurchdachte, konsequenteste und tapferste Weltbild, das je ein empiristisch-realistischer Geist von seinem besonderen kosmischen Standort aus ersann. Und da dieser wohl ein schwer zu erklimmender, im übrigen jedoch normaler ist, an dem jeder Weg zum Wissen notwendig vorüberführt, so ist kein Wunder, dass die fortschreitende Erkenntnis mehr und mehr, so oft sie auf ihrem Weg bei Buddhas Stellung Halt macht, dessen Grundlehren recht geben muss. Er war der größte aller Psychoanalytiker, einer der allergrößten Erkenntniskritiker. Er war unmittelbar das Wirkliche erlebend, sein Erleben verstehend und insofern illusionsfrei wie kein zweiter Geist. Man lese die Bücher Paul Dahlkes über Buddhas Lehre, die ihrem Gegenstand gemäßesten, von denen ich wüßte: sie ist der schlagendste Beweis für die Wahrheit des Laotse-Worts:
Wer mit klarem Blick alles durchdringt,
der mag wohl ohne Kenntnisse bleiben.
Buddha war ja nicht nur kein Gelehrter, er hielt Theorie und logische Begründung für seiner Stellung als eines vollkommen Erwachten geradezu unwürdig1.
Buddhas Lehre wäre in der Tat das letzte Wort aller Lebensweisheit überhaupt, und hätte insofern Dahlkes Vortrag die Tagung beschließen können, wenn sie dem Wirklichen in seiner Totalität gerecht würde. Dies aber tut sie nicht. Buddha ging überall und durchaus vom unmittelbaren Tatsachen-Erleben aus, das er dann denkend bestimmte, oder das, genauer, bei ihm ein in Denken Aufgelöstes war. Er beschränkte sich gewaltsam, um zum Bilde des Eingangsvortrags zurückzukehren, darauf, an der Musik nur das Werden und Vergehen der Einzeltöne vom Standpunkt ihrer empirischen Wirklichkeit im Erlebnisverstande, nicht dem der Gegenständlichkeit, zu sehen, auch wo ihm das Dasein harmonisch-melodischer Zusammenhänge nicht entging. Dass ich mit dem Ausdruck gewaltsame Beschränkung
nichts Willkürliches behaupte, geht unzweideutig aus seiner wohlerwogenen Ablehnung der Antwort auf jede Frage hervor, die von einem anderen als seinem Standpunkt gestellt war, sowie der immer erneuten Bestimmung dieses als eines, von dem aus sich das entweder-oder
anderer Fragestellungen zu einem weder-weder
verwandelt. Buddha ließ nur das unmittelbare Tatsachen-Erleben, das er persönlich kannte und methodisch aus anderer Erlebensart heranzubilden lehrte, als wirklich gelten; insofern dies leidvoll war, wollte er von ihm erlösen.
Aber es gibt andere kosmisch mögliche innere Standorte als denjenigen Buddhas. Und dass andere gerade dem unmittelbaren Erleben die natürlicheren sind, beweist allein schon die Geschichte des Buddhismus, welcher nur dort an der ursprünglichen Lehre festgehalten hat, wo deren radikaler Heroismus, dank geringer Denkbegabung der Bevölkerung, eine Umdeutung ins gemütlich-Vegetative vertrug. Die Grundspannung zwischen Sinn und Erscheinung (die sich empirisch jeweils in der zwischen Atman und Maya, Gott und Welt, Glauben und Wissen widerspiegelt) ist Ausdruck der Grundpolarität des Menschenwesens und deshalb nur gewaltsam zu einem Standpunkt der Mitte, wie ihn der Buddha einnahm, zu versöhnen. Dass es sich auch bei dieser Versöhnung um Gewaltsamkeit handelt, scheint mir durch zweierlei erwiesen: erstens dadurch, dass Buddhas Standpunkt gewisse wirkliche Verhältnisse zu sehen verbot; zweitens durch seine Lehre, dass dieser Standpunkt, wo er ursprünglicher Anlage nicht entspricht, sich durch eine strenge Abtötungstechnik, die den Organismus entsprechend verwandelt, zu erreichen sei. So wahr das Leben vom Standpunkt Buddhas nur als leidvolles Werden und Vergehen erscheinen kann, so wahr erweist sich von einem anderen, der nicht allein gleichberechtigt ist, insofern er möglichem unmittelbaren Erleben entspricht, sondern einen weiteren Überblick über alles Erfahrbare gestattet, nicht das Werden und Vergehen, sondern der Sinneszusammenhang, den dieses zum Ausdruck bringt, als die wahrhaft letzte Instanz.
Denken Sie an den Satz des Eingangsvortrags zurück, dass die Frage nach dem Leben mit der nach dem Sinn des Lebens letztlich zusammenfällt. Sinn ist keine mögliche empirische Gegebenheit, deshalb kann ein empiristischer Geist, wie Buddha, seine primäre Wirklichkeit nicht anerkennen, weil nicht wahrnehmen; ein solcher kann im Sinn, sofern er für sich betrachtet wird, nur ein nachträglich Abstrahiertes oder Hineingedeutetes sehen; ihm kann das Sinnhafte nicht mehr sein als ein Attribut des Werdensprozesses. Dahlke beteuert immer wieder, nur das Buddha-Erleben sei Erleben der Wirklichkeit: damit stellt er eine rein willkürliche Behauptung auf, denn es gibt keinen anderen vitalen Erweis von Wirklichkeit als eben ihr Erlebtwerden. Über dessen erkenntnismäßige Bedeutung entscheidet die Sinneserfassung, d. h. die Bestimmung des ideellen Orts dessen, was ein Erlebnis dem Erlebenden bedeutet, im Gesamtsinneszusammenhang. Sinneserfassung kann nun Buddhas Standort ganz unmöglich als letztmöglichen gelten lassen. Ohne jeden Zweifel ist der Sinn objektiv kein Attribut unter anderen des Werdeprozesses, sondern dessen Seinsgrund2. Insofern der Mensch also wesentlich Sinn ist, ist auch unmittelbares Sinn-Bewusstsein möglich. Nur muss man, um es zu haben, über Erkenntnisorgane verfügen, welche Buddha fehlten. Hat man sie, dann stellt sich überhaupt die Frage nicht, ob die Wirklichkeit, die Buddha schaute, letzte und einzige Wirklichkeit sei. Dann kann das Leiden nicht als letzte Instanz und dessen Aufhebung nicht als Kernfrage des Lebens erscheinen. Aus welchen allgemeinen Bestimmungen sich die wahre Bedeutung der Sonder-Unzulänglichkeiten des Buddhismus ganz von selbst ergibt.
Die Welt ist nicht nur Essen und Eßbarkeit
; diese Deutung mag als Ausdruck echten Wirklichkeits-Erlebens in bestimmten Fällen ehrwürdig sein, sofern sie die einzig mögliche zu sein beansprucht, ist sie ein Glaubensdogma, wie Dahlke denn persönlich durchaus, bei aller Verstandesschärfe, dem Typus des Gläubigen zugehört. Sonst würde er nicht als letzten Sinn des Lebens dessen Aufhörbarkeit postulieren und nicht als Gewissheit hinstellen, dass Leben ein Essen ohne Esser sei. Das sind unerweisliche Glaubensdogmen im genau gleichen Sinn, wie sie die Kirche bekennt. Buddhas Karmalehre, deren Sinn sich in der Feststellung der notwendigen Folgen von gutem und bösem Tun erschöpft, erschöpft ganz gewiss nicht den des wirklichen Sünd- und Schulderlebnisses, das seine Bedeutung durchaus nicht darin hat, dass das Leben aufhören soll und alles dem Widerstrebende verfehlt sei — welche Bedeutung wieder ein dogmatisches Postulat, und zwar recht eigentlich das Postulat eines vorherbestimmenden Sinns, den Buddha sonst grundsätzlich leugnet, darstellt und, als imaginäres Wertbezugszentrum, zur Grundlegung wirklichkeitsgemäßer Ethik nicht taugt. Von Buddhas Stellung des undifferenziert Erlebenden aus ist eben der bestehende Sinnes-Unterschied zwischen Sündigkeits- und anderem Leiden nicht zu fassen. Gleichermaßen konnte Buddha keine Tragik anerkennen, da es für ihn keinen Unterschied zwischen der geschichtlichen und der biologischen Sphäre gab, welchen es dennoch gibt. Was von seinem inneren Standort aus an Wirklichkeit erlebbar war, hat Buddha unvergleichlich klar gesehen. Den Sinn alles von ihm her Durchschaubaren hat er tatsächlich durchschaut. Aber im Letzten hat er sich geirrt, denn die Grundwahrheit des Primats der Welt des Sinnes hat er nicht erkannt.
1 | Vgl. Dahlke, Buddhismus als Religion und Moral, S. 177/78 (München, Oskar Schloss-Verlag). |
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2 | Vgl. den genaueren Nachweis dieses Sachverhalts im Kapitel Jesus der Magiervon Menschen als Sinnbilder. |