Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
III. Tod und Ewigkeit
Krone der Schöpfung
Aber wenn wir nun von hier aus den Zusammenhang der Tagungsvorträge einschließlich desjenigen Dahlkes nochmals überschauen, so überkommen uns Zweifel, ob mit den vorgebrachten Einwänden gegen den Buddhismus Wesentliches geleistet sei. Gut, alle die Sinneszusammenhänge, die wir behaupten, seien Wirklichkeiten: rechtfertigt deren Dasein das Opfer des einzig wirklichen Einzelnen? Aufrichtig verlangt jeder bei der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, dass sein persönliches Leben, von dessen Standpunkt, ihm als sinnvoll erwiesen werde. Und das Wohl der Gattung, der Menschheitsfortschritt oder die Erhabenheit tragischen Heldentums sind mit diesem letztlich gemeinten Sinne nicht identisch. So könnte Buddha mit seiner Behauptung, dass Leben letztinstanzlich Leiden ist, weswegen es besser nicht wäre, und dass einzig die Abtötung des Willens zum Leben Heil bringen kann, trotz allem recht behalten. — Die beiden letzten Redner haben Ihnen nun im Sinnbild gezeigt, dass das persönliche Leben in allem seinem Leid, seiner Vergänglichkeit und Tragik für die, so über bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten verfügen, einen gerade vom Standpunkt der einzigen Person absoluten Sinn hat; einen Sinn, der alles samsarabedingte Leiden rechtfertigt, weil er die Überwindung des Todes in sich schließt. Dies wurde uns besonders eindrucksvoll am Bild des Urchristen deutlich, das uns Arseniew über die Jahrtausende hinaus ins Leben zurückbeschwor.
Im Urchristen löst das, worin Buddha letztinstanzlich Leid sah, in unmittelbar paradoxal wirkender Weise Freude aus. Ihm wird die individuelle Einzelseele gerade durch den Tod errettet, und zwar schon jetzt
, wie Arseniew auf Grund persönlichen Erlebens sagt, nicht erst in einem erhofften Jenseits. — Freude und Leid aber sind nur bis zu einem bestimmten Punkt polare Koordinaten: jenseits dieses erscheint die Freude als das absolut Positive, sowie das radikal Gute ein absolut Positives ist gegenüber dem radikal Bösen, das Sein gegenüber dem Nicht-Sein, das Wissen gegenüber dem Nicht-Wissen. Arseniews innerer Standort nun ist seinem grundsätzlichen Sinne nach von jeher immer wieder eingenommen worden. Ihn haben alle großen Religiösen, mit der einzigen Ausnahme des Buddha, in noch so verschiedener Deutung einsinnig vertreten. Seinen Erfahrungsmöglichkeiten entstammen sämtliche große Religionen des Geists. Und die Menschen, die ihn wahrhaftig einnehmen durften, waren nachweislich die großen Impulsgeber der Menschheit im aufwärtsweisenden Sinn. Alle Steigerung und Vertiefung des Erdenlebens geht letztlich auf sie zurück. Das persönliche Erleben dieser Ausnahmemenschen hat immer wieder Millionen und aber Millionen eingeleuchtet, und dies im Sinne dessen, der eine bisher stumme Saite anklingt, wenn die gleiche außerhalb angeschlagen wird. Also muss es sich da um ein Wirklichkeits-Erleben handeln. Ferner hat sich dies Einleuchten als höherbildende Macht bewährt; also muss eine Wirklichkeit höherer Art im Spiel sein. Denn man beherzige wohl: nicht Suggestion als solche schafft dauernde neue Wirklichkeit, sondern einzig die Suggestion des Wirklichen und Wahren. Alles bloß Eingebildete amortisiert sich bald. Unter diesen Umständen gibt es offenbar einen realen Sinneszusammenhang, welcher oberhalb der bisher betrachteten liegt, in welchen das Einzelne dem Ganzen aufgeopfert erscheint; einen Sinneszusammenhang, der dieses Opfer vom persönlichen Standpunkt des Geopferten rechtfertigt. Dass es ihn gibt, kann direkt zwar nie bewiesen werden, aber Beweise im naturwissenschaftlichen und logischen Verstand sind, wie wir schon mehrfach hervorhoben, auf überempirischem Gebiete nirgends möglich. Doch soweit je das Erlebnis von Überempirischem sich an der Wirkung als wahr bewährt hat, ist dies bei dem, das Überwindung des Todes bedeutet und behauptet, geschehen. Dieses Erleben betrifft aber ausschließlich Geistiges. Nur dem wird es zuteil, dessen Bewusstsein im Geistigen sein Zentrum fand. Also handelt es sich hier, in unserer Sprache, um ein Erleben innerhalb des Reichs des Sinns.
Das wissenschaftliche Zeitalter hat ebensowenig wie der Buddha die Realität einer primär bestehenden Welt des Sinns bemerkt. Während dieser aber tapfer, radikal und konsequent war, hat die Wissenschaft sich um jede ernste Entscheidung herumgedrückt. Nur deshalb gelang es ihr, ihre Ergebnisse dem Rahmen einer optimistischen Weltanschauung einzufügen. Heute nun kann durch Erkenntniskritik (zu welcher ich die Leistung der Phänomenologen mitrechne) als erwiesen gelten, dass sinnliche Erfahrung innerhalb der Erfahrung überhaupt keine Vorzugsstellung im Gewissheitsverstande einnimmt. Geistige Wirklichkeit ist nicht minder real wie materielle, nicht- oder übersinnliches Erleben genau so beweiskräftig wie sinnliches. Allein Wissen und Verstehen sind zweierlei, und dieses allein führt zur lebendigen Einsicht. Hier nun die Bahn gebrochen zu haben, ist das unsterbliche Verdienst der Psychoanalyse. Nicht dass diese objektiv erwiesen hat, dass die Tatsachen auf allen für sie in Betracht kommenden Lebensgebieten nur Sinnbilder sind, von ihrer Bedeutung allein aus zu verstehen, dass allem Faktischen ein Intentionales zugrunde liegt, weshalb der Mensch sich auch unbewusst Ziele setzen kann, dass also der Seinsgrund des Menschen ein geistiger ist, bedeutet deren Großtat, sondern dass sie, indem sie jedem die praktische Möglichkeit zeigt, die Wirklichkeit dieses Zusammenhangs an sich zu erleben und damit, als evident, zu verstehen, die Welt des Sinns recht eigentlich experimentell erweisbar macht. Sie hat die Organe geschaffen, dank denen das durch philosophische Kritik gewonnene abstrakte Wissen konkret verständlich wird. Damit aber hat sie lebendiges Verstehen des Übersinnlichen überhaupt ermöglicht, denn ist irgendeine Sinneswirklichkeit als Realität erlebt, dann ist es grundsätzlich jede.
In der Deutung des geistig Wirklichen hat die Analyse allerdings versagt. Hier kann ich mich sehr kurz fassen, da die psychologischen Kapitel dieses Buchs den betreffenden Problemkreis ausführlich behandeln werden. Das Wenige, was ich hier schon sagen muss, muss ich indessen desto schärfer fassen, weil die analytische Weltanschauung deren heute recht zahlreichen Anhängern als letztes Wort menschlicher Weisheit gilt, so dass die Möglichkeit richtigen Verstehens religiös-metaphysischen Erlebens, historisch betrachtet, in hohem Maß davon abhängt, dass die Absurdität der Analytiker-Philosophie, im Unterschied von ihren Forschungsergebnissen, bewusst werde. Und dies dürfte am schnellsten zu erreichen sein, wenn Analyse und Buddhismus von dem im Eingangsvortrag erstandenen Standpunkt aus gemeinsam beleuchtet werden, wie sich solches aus dem heutigen Zusammenhang von selbst ergibt. Dem Analytiker bedeutet das Triebleben die letzte Lebenswirklichkeit. An dieser Auffassung ist richtig, dass alles Pflanzen- und Tierhafte am Menschen triebhaft ist, dass auch die irdische Wurzel des eigentlich Menschlichen in den Trieben liegt, und dass es grundsätzlich bei jeder, auch der sublimsten Lebenserscheinung gelingt, sie in Funktion der Triebe zu deuten: wo das Leben ein Sinneszusammenhang ist, in Sinnbildern erscheinend, von denen jedes alle anderen spiegelt und als Zeichen beliebiger anderer gedeutet werden kann, hat jeder Lebensausdruck, falls er nicht triebhaft ist, doch seine reale Triebkorrespondenz, kann jeder im Sinn theoretischer Möglichkeit als solcher verstanden werden. Allein die Möglichkeit einer Deutung beweist nie deren Richtigkeit; bei einem Sinneszusammenhang hängt diese ganz und gar von der Bestimmung des Bezugszentrums ab, das in Wirklichkeit als solches funktioniert.
Dieses nun liegt beim Menschen ohne jeden Zweifel nicht im Pflanzlichen, nicht im Tierischen, und auch nicht im triebhaft Menschlichen. Alles triebhafte Leben erschöpft sich, um auf das Bild des Eingangsvortrags zurückzukommen, im Rahmen endgültig festgelegter Melodie; wo Neuerfindung vorliegt, besteht diese immer nur, wie bei der physischen Heilung und Regeneration, in der Wiederherstellung eines gegebenen Zustands, wozu wohl auch die phylogenetische Wandlung zu rechnen ist, da diese allemal, soweit unsere Kenntnis reicht, durch eine sich verändernde Umwelt ausgelöst wurde, weshalb die Veränderung hier in erster Instanz als Weg zur Erhaltung des ursprünglichen Gleichgewichts zu deuten sein dürfte. Für den Menschen hingegen ist schlechthin wesentlich, dass er nicht allein fortlaufend neue Melodien erfindet, sondern dass auch die Melodie sich wandelt, die er selbst verkörpert, weil es zu seinem Wesen gehört, über jeden erreichten Zustand hinauszustreben. Von der Pflanzen- und Tierwelt aus betrachtet, liegt hier seine ganze Eigenart. Dieser für ihn wesentliche Wille zur Steigerung kennzeichnet schon den Wilden. Je mehr der Mensch sich entwickelt, desto mehr bestimmt dieser Wille das ganze Leben. Beim geistig Erwachten geschieht dies in dem Maß, dass ein solcher von Hause aus Überwinder zu werden trachtet — ob in Form des Heiligen, des Asketen, des Helden, des Führers oder doch wenigstens des Arbeiters, der natürlicher Trägheit nicht nachgibt.
Hier ist denn der Ort, den Buddhismus in unsere Betrachtungen erneut hineinzuziehen. Auch dem Buddha, wie dem modernen Analytiker, war das Leben wesentlich Trieb. In seiner theoretischen Grundansicht vom Lebensmaterial unterschied er sich von diesem nur dadurch, dass er das Triebhafte vegetativ, nicht animalisch ausdeutete1. Aber persönlich war Buddha der größte Gegenbeweis gegen die Theorie, dass das Leben nichts als Trieb sei: er war der gewaltigste Überwinder, der jemals lebte, von unerreichter innerer Freiheit und Souveränität. Das Postulat, dies als leidhaft erkannte Leben nicht etwa zu bessern, sondern denkend von innen heraus zu zerstören, seine Anmaßung gar, aus dessen Kreislauf, was allen Göttern misslang, höflich lächelnd herauszutreten, erweist allein schon, dass Buddhas persönliches Zentrum hoch über dem Triebhaften lag. Es lag tatsächlich in der implizite vorausgesetzten letzten Freiheit des Menschen als denkenden Wesens, auf die er nur deshalb den Akzent nicht legte, weil sein besonderer Standort ihm deren Dasein zu bemerken verbot. Immerhin lehrte der Buddha ausdrücklich, dass der Mensch sich durchaus selbst wirkt und als bewusster Geist die selbstleuchtend
gewordene Kraft darstellt, die als solche nie nicht gewesen sein und auch nie zu wirken aufhören kann, es sei denn, die Erkenntnis ihrer möglichen Selbstvernichtung leuchte auf und diese werde zum bewussten Ziel. Dies aber besagt implizite: es sei denn, die Freiheit erwähle selbst das Ende und der Wille zum Leben schlüge in sein Gegenteil um. (An diesem Punkte hat Schopenhauer Buddha tiefer verstanden als Dahlke, weil er der tiefere Sinneserfasser war. Dass in der also richtig verstandenen Lehre ein letzter Widerspruch liegt, ist wahr, aber nicht zu ändern.) Demgegenüber ist die Psychoanalyse dabei geblieben, dass das Triebleben letzte Instanz ist und die Erlösung in nichts sonst bestehen kann, als irgendwie überwundenes
Triebleben wieder freizumachen.
Von hier aus können wir denn verstehend zur positiven Bestimmung des wahren Zusammenhangs übergehen2. Jeder überhaupt Geistbewusste weiß es evident: der Sinneszusammenhang des Menschenlebens hat sein Bezugszentrum oberhalb der Triebsphäre. Es ist ganz einfach nicht wahr, dass befriedigte Triebe an sich schon das Leben als lebenswert erscheinen lassen. Die Spannungen innerhalb dieser sind dem Menschen nie und nirgends letzte Instanz. Sie sind andererseits — die genaue Begründung dieser Behauptung lese man in den psychoanalytischen Kapiteln dieses Buchs und dem Kapitel Von der Produktivität des Unzulänglichen
meiner Menschen als Sinnbilder nach — die Bedingung aller höheren Sinnesverwirklichung. Nur auf straff gespannter Saite kann man spielen, nur mit gespanntem Bogen schießen. Das Pflanzen- und Tierhafte ist dem Menschen nur das Instrument, er selbst ist der Spieler oder der Schütze. Nur dank seinen Spannungen kann er, trotz seiner Erdverhaftetheit, das ewig vorwärts- und aufwärtsstrebende Wesen sein, das an keinem bloß biologischen Gleichgewichtszustand je sein Glück findet. Hier verkennen Spiritualisten aus dem Okkultistenlager die Situation kaum weniger als die analytischen Positivisten: sie wollen dem Menschen das Unreine
seines physischen und psychischen Leibes nehmen und verkennen ganz, dass dieses unter Umständen unerlässliche Bedingung der Geistverwirklichung ist.
Die pathologischen Zustände des körperlich-seelischen Lebens können dem Menschen gar nicht letzte Instanzen sein, weil sie die Dissonanzen bedeuten, welche Lösungen auf höheren Ebenen vorbereiten und allererst möglich machen. Ebendeshalb muss der Mensch auch die Tragik bejahen, wie er dies tatsächlich tut, denn in der Unlösbarkeit des tragischen Zustandes liegt gerade die Spannung, deren sein tiefstes Wesen bedarf, um sich empirisch zu manifestieren. Dementsprechend äußert sich denn das Polaritätsgesetz beim Menschen überhaupt grundsätzlich in unlösbaren Spannungen — in unlösbaren, noch einmal, insofern der Mensch Mensch, d. h. ein Übertierisches ist und bleiben will. Die Spannung zwischen den Geschlechtern erledigt sich beim Tier in der vollzogenen Begattung; beim Menschen ist sie ewig; ewig vergeblich suchen Mann und Weib zu verschmelzen, sich auch nur zu verstehen. Die unlösbare Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit stellt recht eigentlich die Vorbedingung dar jeder Aufwärtsbewegung überhaupt. Die Unendlichkeitsspannung endlich zwischen Gott und Mensch in dessen Seeleninneren, wie immer man sie deute, schafft die bloße Möglichkeit spirituellen Aufstiegs, wie jene denn, in der Bibel zuerst bewusst und beredt geworden, den Ursprung alles westlichen Unendlichkeitsstrebens darstellt. Wo sie nicht vorlag, gab es niemals Fortschritt. Spannung in niederem Sphären ist also erfahrungsgemäß die Voraussetzung alles Leben aus höheren heraus; tiefere Sinneszusammenhänge greifen genau insoweit ins Erdenleben ein, als neue Spannungen ihr Ausdrucksmöglichkeit schaffen.
Aus diesen Erwägungen allein ist überhaupt zu verstehen, weshalb der Mensch, als Geist die Krone der Schöpfung, das biologisch vielleicht unvollkommenste und jedenfalls das wesentlich leidende Tier ist. Biologisch ist der Mensch nicht mehr im Fortschreiten begriffen — Dacqué behauptet sogar, er stelle in dieser Hinsicht einen uralten, bis zu mesozoischen Formen zurückreichenden Atavismus dar. Des Menschen Entwicklung bewegt sich eben in anderer, aus der Welt der Materie hinausweisender Dimension. Deshalb ist er vom Irdischen her nie vollständig zu verstehen. Deshalb ist er das wesentlich kranke Tier, muss er, als physisches Gleichgewicht, immer gefährdeter werden, je näher er der Erfüllung seiner gefühlten Bestimmung kommt, denn immer gewaltigere Spannungen hat er in sich zu vereinen und zu beherrschen. Dostojewski gilt heute vor allem deshalb als Prophet, weil seine Typen, ob auch in ungebändigter Form, viel größere Spannungen in sich tragen, als irgendein historischer Typus sie in sich zusammenschloss, und die neue Kultur auf höherer Ebene, die wir alle anstreben, nur auf Grund dieser höheren Spannungen empirisch möglich ist. So sehen wir denn, dass erst mit der Überwindung der Art von Leben, in dem sich das Leben überhaupt für den orthodoxen Psychoanalytiker erschöpft, das eigentliche Menschenleben beginnt. Das Erlösungsversprechen der Analyse entspricht dem Sinn nach günstigstenfalls jenen spätantiken Religionen, die in der Identifizierung des Menschen mit der werdenden und entwerdenden Natur dessen Heil sahen. Sie wurden durch das weltverneinende Christentum besiegt, weil dies insofern naturüberlegen und damit erst menschengemäß war.
1 | Näher ausgeführt steht dieser Gedanke im Ceylon-Kapitel meines Reisetagebuchs. |
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2 | Die letzte Ausführung der Gedanken dieses Kapitels gibt, auf Grund aller vorhergehenden, erst das vorletzte dieses Buchs (Das religiöse Problem). |