Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
I. Freiheit und Norm
Grenzpunkt des Irrationalen
Wer das Freiheitsproblem in geordneten Zusammenhang des Wirklichen richtig einstellen will, hat von der Grundtatsache auszugehen, dass es kein Gebiet gibt, auf dem nicht Statistik im Rahmen möglicher Wahrscheinlichkeitsrechnung und auf Grund der Gesetze der großen Zahlen Voraussagen gestattete. Von dieser Grundtatsache hat er auszugehen, weil nur der auf ihr fundierte Gesichtspunkt alle nur mögliche Normiertheit, die Erfahrung erweist, ohne Vorurteil von Hause aus auf einmal zu überschauen gestattet. Man experimentiere, sooft man will: Statistik erweist, dass zwei mal zwei immer wieder vier ergeben. So wenig erschöpfend bisher der Weg der Vererbung verstanden sei: dass er, auf die Gesetze der großen Zahlen zurückbezogen, regelmäßig bestimmten allgemeinen Normen folgt, hat Statistik schon heute erwiesen. Nicht anders steht es mit allen anderen Naturvorgängen. Und dies gilt nicht allein in dem Sinn, dass Statistik allenthalben Gesetzmäßigkeit erweist: es gilt vor allem in dem, dass sich qualitativ andere Gesetze als die ihren ohne Vorurteil auf der Ebene der Gegebenheit nirgends nachweisen lassen. Der Begriff des Naturgesetzes als einer mysteriösen selbständigen Wirklichkeit im Sinn der platonischen Idee hält gereifter Kritik nicht stand. Von ihren gesichertesten Gesetzen behauptet die moderne Physik nichts anderes mehr, als dass sie in Form mathematischer Gleichungen fassbare Beziehungen zur Darstellung bringen, die allgemeingültig sind, insofern als Statistik ihre Gültigkeit immer wieder erwiesen hat und erweist.
Der alte mysteriöse Gesetzesbegriff fiel in der Naturwissenschaft, die ihn unter dem Eindruck der wunderbaren Ordnung des Kosmos als erste aufgestellt hatte, zuerst, weil sie als erste feststellen musste, dass zwischen Kosmos und Chaos vom Normalstandpunkt kein Unterschied besteht: die großen Gesetze der Mechanik regieren gleichsinnig beide. So kam, als später erkannt wurde, dass auch die Reflexe der Organismen sowie die Reaktionen der Psyche feste Bahnen einhalten, die sich grundsätzlich nicht schlechter als Mechanismen beschreiben lassen, wie die der Gestirne, niemand mehr darauf, die Gesetze, denen sie folgen, als selbständige Wirklichkeiten zu hypostasieren. Aber andererseits hat erst die moderne Psychologie den Beweis erbracht, dass es wirklich nichts gibt auf der Welt, dessen Werden nicht nach festen Gesetzen zu begreifen wäre. Deshalb dürfen wir ohne weitere Begründung von der Behauptung ausgehen, dass, was geschieht, jedesmal auf bestimmte Weise geschieht; gesetzloses Geschehen gibt es nicht, ganz einerlei, warum dem so ist.
Weiter aber dürfen wir behaupten: da die Gesetze für sich nichts sind und sich doch überall abstrahieren lassen, wo immer der Mensch denkend dem Wirklichen gegen, übertritt, so stellen sie dessen Verstandesansicht dar. Insofern nachgedacht wird über die Welt, gibt es ebenso gewiss Gesetze, wie diese selbst. Insofern nicht nachgedacht wird, entbehrt die Frage des Sinns1. Woraus sich denn das Verständnis eines überaus wichtigen Tatbestandes von selbst ergibt: dass durch den noch so gewissen Nachweis von Gesetzen das was
des Geschehens in keiner Weise erklärt wird. Nicht allein ist kein Sosein
verstandesmäßig auflösbar — keine Atomistik oder Elektrodynamik bringt das Qualitative der chemischen Körper dem Verständnis näher, keine Akustik oder Harmonik das der Töne —, das Irrationale der Wirklichkeit schließt deren geordneten Zusammenhang mit ein. Dies erweist abschließend die eine kurze Erwägung, dass jedes bestimmte Naturgesetz seinen Ansatzpunkt im Irrationalen hat. Auf keine Weise ist jemals einzusehen, warum gerade dieses und kein anderes Gesetz im bestimmten Falle gilt; die rational fassbare Ansicht jeder Wirklichkeit setzt deren irrationales Sosein letztinstanzlich voraus.
Wir haben sonach zunächst die so und nicht anders beschaffene Gegebenheit vor allem Denken und Begreifen hinzunehmen. Dann erst stellt sich die Frage der Begreifbarkeit. An diesem Punkt nun offenbart sich, deutlicher vielleicht als irgendwo, die Denkergröße Kants. Dieser wusste implizite, obschon er es nicht ausdrücklich ausgesprochen hat, dass die Dinge so liegen, wie wir sie hier darstellten. Deshalb ging seine Kritik nicht von der Frage aus, wie das Wirkliche aus dem Verstehbaren deduzierbar sei, sondern er fragte: vorausgesetzt, dass es Erfahrung gibt, wie ist sie möglich? Vorausgesetzt, dass es eine Natur gibt, wie ist sie dann begreifbar? Sein Ansatz lag am Grenzpunkt des Irrationalen, das er als solches hinnahm, welchen Grenzpunkt er, von seinem Standpunkt richtig, im erkennenden Subjekt situierte.
1 | Vgl. die genaue Deduktion dieses Sachverhalts in meinen Prolegomena zur Naturphilosophie, 1910. Zuerst übergab ich sie mündlich 1907 in meinen Vorlesungen an der Universität Hamburg der Öffentlichkeit. |
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