Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Erfindung und Form

Meister des Ausdrucks

Aber bisher redeten wir vom freien Schaffen, ohne dessen Begriff zu bestimmen. Worin besteht es? Wie ist Erfindung möglich? In unserem heutigen Zusammenhang kann Freiheit nur eins bedeuten: die Möglichkeit, mittels des Gegebenen Neues zu sagen. Absolut betrachtet, ist insofern alles Lebendige originell, denn eine Gegebenheit als Ausgangspunkt und Ausdrucksmittel setzt vom Verstandesstandpunkt jedes Leben voraus, während jede seiner Erscheinungen andrerseits einzig ist und dadurch zustande kommt, dass einziger Sinn die Gegebenheit von innen her belebt. Doch hier handelt es sich für uns um Bestimmtes; vom allgemeinen Problem des Lebens her betrachtet, gleichsam die seltene Blüte des rein Persönlichen auf nicht- und überpersönlichem Stamm: denn nichts anderes bedeutet das Neuerfinden gegenüber der Wiederholung, als welches das Lebensgeschehen, im großen betrachtet, erscheint. Nun, Neuerfindung kommt nie anders zustande, als dadurch, dass den unveränderten Elementen der Erscheinung von innen heraus neuer Sinn gegeben wird, gleichwie das unveränderte Alphabet dank Goethes Geist zum Ausdrucksmittel der Faustdichtung wurde.

Ist neuer Sinn da, dann entsteht auf Grund des Korrelationsgesetzes von Sinn und Ausdruck zwangsläufig eine neue entsprechende Gestalt. Daher die Einzigkeit jedes persönlichen Stils: er ist das Korrelat der Einzigkeit der individuellen Seele. Dass sich im übrigen auch die persönlichste Schöpfung als irgendeinem allgemeinen Typus gemäß erweisen lässt, und dass es überpersönliche Kunststile gibt, hat den gleichen Sinn wie die Tatsache, dass sich alles Lebendige von jeher auf das Skelett fester Grundtypen hin entfaltet hat. Auch die Geistesgrundformen haben ein Eigenleben, weil sie offenbar einen optimalen Gleichgewichtszustand im kosmischen Zusammenhang darstellen, die andere mögliche und denkbare nicht verkörpern; daher neben dem Eigenleben der Kunststile das der Rechtsnormen, der religiösen Dogmen und kirchlichen Zeremonien, die durch unermeßliche Zeiträume hindurch sich kaum verändern. Ebendeshalb fügt sich auch der Geist, je schöpferischer er ist, desto bereitwilliger den Forderungen, die sein Typus stellt, denn dies bietet ihm eine Möglichkeit mehr, die Gegebenheit durch Gehorsam zu beherrschen. Von hieraus leuchtet denn ein, warum jeder lernen muss, bevor er Neues sagen kann, und warum jeder junge Mensch und jede junge Kultur mit Nachahmen beginnt. In bezug auf sich selbst ist auch der Säugling originell. In bezug auf andere erst der, der darüber hinausführt, was die anderen schon wissen; dies kann er aber erst, wenn er diesen hierin gleichgeworden ist. So nutzt gerade der Produktive den dem Menschen angeborenen Imitationsmechanismus am intensivsten aus, weil dies ihn am schnellsten dem Zustand seiner Mitmenschen angleicht.

Das Neue kommt also dadurch zustande, dass dem schon Bekannten ein neuer Sinn gegeben wird. Denn alle Schöpfung hat ihren Ursprung im Reich des Sinns. Damit wären wir zur allgemeinen Frage hinüber- oder zurückgelangt, was Freiheit letztlich bedeutet, und auf diese kann ich erst im Schlussvortrag eingehen, nachdem die Redner von morgen zwei weitere Dimensionen des Freiheitsproblemes hingezeichnet haben. Heute will ich einzig davon handeln, wie Freiheit wirkt. Hierzu greife ich denn am besten auf den Begriff der magischen Formel zurück, die ein Seelengefüge sprengt; es ist dasselbe, was man oft auch das lösende Wort heißt. Hierbei handelt es sich nämlich um das Urbeispiel dessen, wie Geist überhaupt wirkt. Sie kennen die Geschichte der Posaunen, deren bloßer Klag die Mauern von Jericho ins Wanken brachte. Gleichsinnig geht die Sage, dass jede Brücke einen bestimmten Ton habe: wer diesen noch so leise auf einer Saite streicht, zerstöre ihr ganze Gefüge. Wie ist das möglich — gleichviel ob es so wirklich ist? Nun, dieser Ton verkörpert die eine Schwingung, die sich der Spannung des Gebäudes ohne weiteres induzieren, lässt, dann aber allen ihren Komponenten eine Beschleunigung erteilt, die das Gleichgewicht sprengt. Es handelt sich also um Besiegung der Natur durch die Natur. Nicht anders ist irgendeine Geisteswirkung möglich. Überall ist es die ganz bestimmte Form, die einzig und allein den gemeinten Sinn der Erscheinung einbilden kann.

Der Sinn ist an den entsprechenden Ausdruck unbedingt gebunden, er steht und fällt mit ihm. Man kann Bestimmtes nie auch anders sagen. So sehen wir denn, dass die Form das schlechthin Wesentliche ist vom Standpunkt der Erdbedeutung des Sinns. Und hieraus ermessen wir ganz die ungeheuerliche Oberflächlichkeit derer, welche die Form als Oberflächenfrage verachten. Die Darstellung ist schlechthin wesentlich. Was von der bestimmten mathematischen Gleichung gilt, die nie auch anders angesetzt und gefasst werden kann, gilt in genau gleichem Maße von jeder Darstellung. Wem die Kunst des Ausdrucks fehlt, der liefert im besten Fall den Rohstoff zur eigentlichen Geistesschöpfung, gleichwie die Kohle zur Erzeugung des Lichts. Deshalb ist es selbstverständlich sowohl als gerecht, dass die Menschheit nur die Erinnerung der Meister des Ausdrucks bewahrt. Denn Meisterschaft im Ausdruck gibt es nicht nur im Reich der Kunst, sondern auch des Lebens. Jedes große Leben war in genau gleichem Sinn ein künstlerisches Meisterwerk. Tun und Nicht-Tun, Sagen und Verschweigen skandierte sich in ihm, wie in einem Gedicht. Alle öffentlichen Handlungen Großer waren sinnbildlich gemeint; von Hause aus sollten sie Quellen späterer Legende sein. Alle ihre einmaligen Entscheidungen sollten als Vorbilder fortwirken. Und was von ihrem Leben galt, galt, wo dies in ihrer Hand lag, auch von ihrem Tod. Sokrates und Christus starben genau dann, als sie sterben mussten, wenn das Bild ihres Lebens als Sinnbild weiterwirken sollte.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Erfindung und Form
© 1998- Schule des Rades
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