Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
III. Der letzte Sinn der Freiheit
Flucht vor der Freiheit
Unsere Aufgabe ist nunmehr, den letzten Sinn dieses Zusammenhangs, vom Freiheitsproblem aus betrachtet, zu finden. Zu deren Lösung gelangen wir am schnellsten, indem wir von der Tatsache ausgehen, dass kaum ein Mensch frei sein will. Jedes Kind will gehorchen; das schlimme Kind ist das Kunstprodukt der Unfähigkeit seiner Erzieher. Nur der Allerüberlegenste verträgt ein Leben außerhalb des Rahmens eines bestimmte Regelung bedingenden Berufs. Beinahe jeder braucht eine Stellung
, auf die er sich berufen möge; daher das groteske Wachsen des Selbstbewusstseins mit Titel und Rang; er will im Namen von etwas, was er nicht selbst ist, also unfrei handeln können. Oder er will im Namen eines Vorgesetzten reden, in welchem Fall dann der persönlich Ängstlichste so oft und ach! so gern den Helden spielt. Oder aber er stellt, als Dichter, das, was er wirklich ist und denkt, in Form erfundener Gestalten heraus, während kaum eine Autobiographie je wirklichkeitsgemäß war. Oder aber er will durchaus das Recht auf seiner Seite haben. Auch dies beweist nichts anderes als Willen zur Unfreiheit — bei dem zweifelhaften Wert alles positiven Rechts ist es dem Überlegenen innerlich gleich, ob er objektiv
recht oder unrecht hat. Oder aber er folgt der Sitte, der öffentlichen Meinung. Dem gleichen Phänomen begegnen wir auf religiösem Gebiet. Kein abendländischer Religionsstifter hat, wie Harnack feststellt, im eigenen Namen zu reden gewagt; jeder von ihnen berief sich auf eine feste Autorität. Ja vielleicht hat es unter Religionsstiftern überhaupt nur einen gegeben, dem es mit der Selbstbestimmung und -verantwortung ganz ernst war: Buddha. Aber charakteristischerweise sah letzterer im Leben einzig Leiden und nur eine mögliche Erlösung davon: das individuelle Verlöschen.
Mit dem Willen zur Freiheit im Sinn von Selbstverantwortung ist es also nachweislich schlecht bestellt. Dies gilt extrem auf dem Gebiet der Politik. Beweis dessen ist allein das über die Maßen undeutliche Bild, welches das Lied Freiheit, die ich meine
von dieser entwirft: es scheint wie absichtlich dem vorbeugen zu wollen, dass sie aus dem Mythos je zur Wirklichkeit würde. Freiheit der Presse, des Kannegießerns usw. mag einer ehrlich anstreben, ganz frei sein will kaum jemand. Emanzipierte Klassen, wie heute das Proletariat, binden sich sofort an sehr viel festere Programme, als die traditionellen Hüter der Autorität sie jemals aufstellten, und nehmen sie in einem Grade ernst, der allein innere Unfreiheit beweist. Innere Freiheit hat nämlich ihren untrüglichen Exponenten am Humor; wer über das, was er vertritt, nicht lachen kann, ist subaltern. So versiegte auch der ursprüngliche Freiheitsdrang der Protestanten gar bald im Kleinkram dogmatischer Spitzfindigkeiten, über welche die innerlich sichere katholische Kirche längst erhaben war. Und nicht besser steht es mit dem Willen zur Freiheit im Sinn schöpferischer Betätigung. Unter Tausenden verlangt es nicht einen wirklich darnach; gerade die verschrieene mechanische Arbeit, die nur ein Minimum an Initiative erfordert, ist der Meisten Ideal. Und will etwa der typische Forscher wirklich frei sein? Er sucht feste Wahrheiten, psychologisch betrachtet, vor allem dazu, um diese als bindende Autoritäten anerkennen zu können; nur ganz wenige verstanden ihr Wahrheitssuchen je im Sinne Lessings. Insofern bedeuten alle Theologien, Jurisprudenzen, okkultistischen und sonstigen Theorien Sicherungen der Feigheit, bedeutet das meiste Denken recht eigentlich Flucht vor der Freiheit; es sucht nach Rückversicherung im Beweis. Feigheit in diesem Verstand ist tatsächlich historische Grundtatsache. Deshalb vor allem genügt erfahrungsgemäß persönlicher Mut allein schon, um sich durchzusetzen; deshalb schaden dem bedeutenden Menschen von Mut die größten Fehler nie ernstlich, solange er an sich glaubt. Die Krone des Willens zur Unfreiheit bezeichnet der Gnadenglaube. Dieser legt, gemäß Weltschs guter Fassung, den Nachdruck auf die metaphysische Geborgenheit im Gegensatz zum metaphysischen Mut, als welcher der Wille zur Freiheit wesentlich ist; denn deren Begriff hat nur Sinn, solange etwas unentschieden ist und zu entscheiden bleibt. Dem Gnadengläubigen ist aller Wert schon verwirklicht. Man braucht ihn nur hinzunehmen, nur mit sich geschehen zu lassen. Wer nun in diesem Sinn die Gnade will, will die Erlösung vom Suchen, den endgültigen Frieden und folglich die Unfreiheit. Der hat sich, psychologisch betrachtet, für die kindliche Einstellung entschieden.
Es ist also einfach nicht wahr, dass die Freiheit allgemeingültiges Ideal sei, wie beinahe alle Philosophen voraussetzen. Und erinnern wir uns jetzt der Gedankengänge des Eingangsvortrags, aus denen hervorging, dass die Freiheit, historisch betrachtet, nichts Ursprüngliches ist, sondern erst von da ab als Erscheinung möglich wird, wo sich der Lebensprozess im bewussten Subjekt zentriert, so nimmt uns der Tatbestand auch nicht mehr wunder. Bei den organischen Prozessen kann von Freiheit keine Rede sein. Als Kind ist keiner autonom; selbst das Ichbewusstsein erwacht erst manches Jahr nach der Geburt. Je Primitiver ein Volk, desto festgewurzelter sind seine Sitten. Der Freiheitswille wächst nachweislich proportional der Bewusstheit, und proportional dieser schwankt wiederum das Ansehen überpersönlicher Norm. Dies erweist die Rechtsgeschichte am anschaulichsten. Die Rechtsbegriffe Primitiver sind die starrsten. Lange fragte das Recht nach der Gesinnung gar nicht, sondern nur nach Tatsachen.
Erst heute erlangt erstere Frage in der Rechtspflege das Übergewicht, aber dementsprechend schwindet das Prestige des Rechtes überhaupt. Nun ist das Gebiet möglicher Freiheit seinerseits nicht allein nach unten, sondern auch nach oben zu begrenzt. Unzweifelhaft gibt es oberhalb des Reichs möglicher persönlicher Entscheidung ein Reich überpersönlicher, dem der Begriff einer kosmischen Fügung am vorurteilsfreisten gerecht wird. Dieses liegt in der Dimension des Transsubjektiven und ist von aller äußerlichen Bestimmung, d. h. aller Notwendigkeit wohl zu unterscheiden. Wo Freiheit nachweislich nur das Selbstleuchtendwerden
des allgemeinen Wegs des Lebens bezeichnet, wo dieses nur für eine kurze Strecke gilt und die Weisheit von Natur, Schicksal und Vorsehung nicht geringer, sondern sehr viel größer ist als alles, was menschliche Einsicht aus sich selbst vermag, da besteht über die Realität dieses höheren Reichs kein Zweifel. Und insofern dies vom Standpunkt der Freiheit Bindung setzt, verlangt die einseitige Spannung der Freiheit einerseits die religio an die kosmischen Mächte, um sinnvoll zu wirken, kann andererseits grundsätzlich nicht behauptet werden, dass die Vorherrschaft der Freiheit notwendig den höheren Zustand verkörpere als die innerer Gebundenheit. So hat es gleich reiche und wertvolle Zeiten unter vorherrschender Gebundenheit gegeben; so ist es unmöglich, grundsätzlich zu entscheiden, welche Einstellung richtiger sei, die der (wesentlich gebundenen) katholischen Welt oder die der Protestanten. Jene, die alles urväterliche Wissen zum Hintergrunde jedes persönlichen Lebens macht, ist jedenfalls die weisere.
Wozu weiter kommt, dass alle Freiheit unabwendbar von irgendeinem nicht in Zweifel gestellten Punkte ausgehen muss, weshalb die Frage Autorität
oder Nicht-Autorität
sich praktisch niemals stellt: es stellt sich einzig die, was als Autorität gilt, ob eine überpersönliche Wirklichkeit, ein Dogma, eine andere Person oder das persönliche Urteil. Insofern sind Autorität und Freiheit Korrelate, wodurch verständlich wird, dass sich der Gläubige einer Autorität diesseits ihrer am freiesten fühlt, und dass der im Gnadenstand, innerhalb dessen der Freiheitsbegriff seinen Sinn verliert, befindliche als freiester gilt. Es muss ferner zugegeben werden, dass insofern der Mensch, im Zusammenhang des Kosmos betrachtet, sicher mehr gebunden als frei ist, die Akzentlage des Katholizismus auf die Gebundenheit sinnentsprechend ist; ja sogar, dass sofern ein religiöses Dogma absolut wahr wäre, seine unbedingte Anerkennung nur befreien könnte; dann dürfte sich nur der Protestant oder selbständige Metaphysiker mit dem gläubigen Katholiken an innerer Freiheit messen, dessen persönliche Erkenntnis ebendort wurzelte, wie die Lehre der Kirche. Absolutes und vollständiges Wissen kann nun für sich kein Einzelner erreichen. Millionen Seelen haben zusammen unter allen Umständen mehr erfahren als je ein Einzelner könnte, und differenziert man hier qualitativ und akzeptiert den tieferen Geist als Autorität, so kann Autoritätsglaube, grundsätzlich gesprochen, auch insofern nur befreiend wirken. Weil in der Gebundenheit mehr Weisheit zum Ausdruck kommen kann, als in einem auf persönliche Initiative eingestellten Leben, bekennt sich der Greis, im Unterschied zum Jüngling, typischerweise, so oder anders, zu jener. Aber das hindert nicht, dass Freiheit sich nur im Akzentlegen eben auf die freie Seite des Lebens äußert. Und dass, wenn die Voraussetzung gilt, dass Freiwerden der Sinn des Menschenlebens ist — und dies war die Voraussetzung aller bisherigen Philosophie —, die unweisere vor der weiseren Einstellung insofern den Vorrang hat. Es gibt, vom Standpunkt der Freiheit, keinen größeren Unterschied als den, ob einer etwas im eigenen oder fremden Namen tut; hier entscheidet das Wie
letztinstanzlich über den Wert des Was
.