Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
III. Der letzte Sinn der Freiheit
Freiheitsglaube
Doch was ist es nun mit dem Entscheiden-Können? Es ist weiter nicht abzuleiten, denn es bedeutet die gegebene Voraussetzung alles Denkens, weil alles Lebens überhaupt. Hier mit Kausalität zu kommen, ist sinnwidrig, denn das Kausalitätsgesetz gilt erstens allein vom erkennenden Subjekte her, zweitens brauchen wir nach keiner Ursache zu fragen, wo das betreffende Geschehen durch das bestimmende Subjekt hindurchgeht. Und aus Freiheit ist Freiheit erst recht nicht zu begründen. Wohl aber können wir genauer sagen, als bisher geschah, wie es sich mit der Freiheit verhält. Vielleicht die wunderbarste Tatsache unseres Erkenntnisbereichs ist die, dass die Freiheit sich selbst vernichten kann: nämlich durch Nicht-Glauben an sich selbst. Wer nicht an seine Freiheit glaubt, verfällt tatsächlich in Ohnmacht und Knechtschaft. Daraus folgt, dass die Möglichkeit der Freiheit mit dem Glauben wesentlich zusammenhängt, und zwar müssen wir diesen Tatbestand auf Grund des Vorhergehenden so verstehen, dass es insofern ein Jenseits der Freiheit im tatsächlichen Sinne gibt, als die Selbstbestimmung sich im Fall der Zentriertheit im bewussten Subjekt auch noch darüber zu entscheiden hat, ob sie sich in Form von Freiheit äußert. Sie kann auch zugunsten der Notwendigkeit oder der Gnade abdanken; dies ist der letzte Sinn der eingangs geschilderten Tat, bestände, sowie der anderen, die Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst behandelt. Nun ist Glauben, wie ich in der Unsterblichkeit zuerst erwies, vom Bewusstsein aus betrachtet, das Letzte. Es bedeutet die subjektive Entsprechung, in der Sphäre des schöpferischen Lebens, des objektiven Seins. Durch den Glauben an sie erst setzt
man die Wirklichkeit als wirklich.
Mein eigenes Sein wird mir im selben Augenblick zum Glaubensinhalt, wo es mir zur herausgestellten Vorstellung wird. Sobald ich nicht unmittelbar bin, sondern auf dem Umwege der Reflexion zu mir selbst gelange, kann ich an mich nur glauben. Das Ich wird mir dann zur letzten Voraussetzung, d. h. zum Nicht-Weiter-Zurückführbaren, d. i. zum Glaubensobjekt. Daher das Paradox, dass es nicht genügt, jemand zu sein, dass man überdies an sich glauben muss, um zu siegen; daher die Gewähr des Erfolgs, ja die Antizipation des Schicksals, die im Selbstbewusstsein begründet liegt; daher das Wunder, dass der Glaube das Unmögliche erreichen, den Naturgesetzen Trotz bieten zu können scheint; daher endlich die Möglichkeit, von außen nach innen auf den Menschen zu wirken — das Prinzip des preußischen Soldatendrills: man tut so, als ob die erforderten Eigenschaften im Innern begründet lägen, von innen hervorkämen. Zuletzt glaubt man wirklich daran, und was man von sich glaubt, das wird man auch … So bewegt sich das bewusst-geistige Leben zwischen zwei Brennpunkten, deren einer dem Sein des Subjekts, deren anderer dem Glauben ans Objekt entspricht und die kongruent zusammenwirken müssen überall, wo es zur produktiven Macht werden soll.(3. Aufl. S. 94.)
Insofern spricht Anselm von Canterburys berühmte These Credo ut intelligam wahr. Insofern hat Weltsch recht, wenn er alles Wirkliche als Sein auf eine Ur-Vertrauensentscheidung zurückführt. Aber der Glaube setzt
nicht nur Wirklichkeit als solche, er schafft
sie. Und dies besagt für unser besonderes Problem: wenn Nicht-Glaube an die Freiheit diese aufhebt, so schafft Glaube sie andererseits, wie denn erfahrungsmäßig feststeht, dass Freiheit proportional ihrem Bewusstwerden und ihrer Bejahung wächst.
Also setzt Freiheitsäußerung den Freiheitsglauben voraus, wodurch psychologisch erklärt ist, wieso dem Menschen von Anfang an ein Begriff einfallen und einleuchten konnte, welchen Denken von seinen eigenen Voraussetzungen aus als wirklichkeitsgemäß nicht erweisen kann. Daraus folgt aber weiter, dass die gesamte Wirklichkeit der Freiheit ihren Grund in einem anscheinend Nur-Subjektiven hat. So ist es allerdings. Aber damit ist eben die supreme Realität eben dieses Nur-Subjektiven erwiesen. Man kann gar nicht mehr
als glauben, weil der Glaube die Schöpferkraft des Lebens selbst in einer bestimmten Einstellung verkörpert. In einer bestimmten Einstellung: denn absolut beobachtet, ist nicht der Glaube das letzte, sondern die allgemeine Schöpferkraft, die im Fall sie von einer herausgestellten Vorstellung ausgeht, sich mit dieser in Form des Glaubens identifiziert und sie auf diese Weise am Sein teilhaftig werden lässt. Glauben ist ein Sonderausdruck dessen, was ich allgemein als Akzentlegen zu bestimmen pflege. Die Fähigkeit dazu ist aber Urphänomen, weil identisch mit dem Urphänomen der Freiheit überhaupt als der Fähigkeit, zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen und das Gewählte zu bejahen, deren besonderes Dasein durch das Wirken keines nur denkbaren äußeren Motivs zu widerlegen ist, weil das spezifische Wirken von Motiven die Spezifizität freien Lebens voraussetzt. Wer hiergegen die Zwangswirkung der Suggestion einwirft, bedenke, dass sich hier freie Setzung des Suggestionsmechanismus bedient, dass der Mensch also selbst die Ursachen schafft, welche die Mechanismen seiner Seele in Bewegung setzen, so dass das Ziel gewissermaßen als Ursache wirkt.
Jetzt bedeutet es für uns kein Problem mehr, dass die Freiheit weder abzuleiten noch auf der Ebene Logikgeborener Theorie zu beweisen ist: Freiheit ist wesentlich Magie. Magie ist nichts anderes als das Schaffen von Objektivem im weitesten Verstand aus Subjektivem heraus. Insofern ist nun alles Leben Magie. Wenn im Bereich des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft, und nicht zwar umgekehrt, wenn die Entelechie aus unsichtbarer Machtbefugnis heraus Organe aufbaut, erhält und ordnet, so ist das, grundsätzlich betrachtet, nichts anderes, als was das Materialisationsmedium auf besonderer Ebene leistet und die freie Sinngebung des Menschen auf der Ebene gegebener Erscheinungswirklichkeit. Erinnern wir uns jetzt der praktischen Grundlehre der Schule der Weisheit, dass Vorstellung Wirklichkeit schafft. Nichts anderes bedeutet, auf den Glaubensinhalt hin betrachtet, die Schöpferkraft des Glaubens. Bei unserer Grundlehre handelt es sich nur um die weitere Fassung, die sowohl das bewusste als das unbewusste Schaffen in sich begreift. Folglich enthält sie den Schlüssel zum gesamten Freiheitsproblem. Wenden wir uns von hier aus noch einmal kurz der Frage des sog. freien Willens zu. Seit Coués Forschungen steht fest, dass nicht der Wille schafft, sondern die Phantasie, und dies zwar so, dass eine fest ins Auge gefasste Vorstellung sich von selbst verwirklicht.
Hier hätten wir das Positiv zum Drieschschen Negativ, dass zwischen Wille und Tat, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit nichts
liegt. Das ist ganz selbstverständlich in Anbetracht des magischen
Charakters des lebendigen Von-Selbst-Werdens sowohl als des freien Schaffens, denn magisch Wirken heißt eben aus Subjektivem Objektives bilden. Von hier aus verstehen wir nun endgültig, inwiefern das Freiheitsproblem sich im Problem der Willensfreiheit nicht erschöpft: der Hemmungsmechanismus, welchen der Wille darstellt, ist nur ein geringfügiges Organ, das der Freiheit unter anderen zu Gebote steht. Sie selbst ist eines Sinns mit der Urmöglichkeit der Magie. Diese nun kann heute ihrerseits als kritisch begriffen gelten, dank der Theorie einer natürlichen Magie (München, Ernst Reinhardt) des greisen Juristen Ernst Marcus. Dieser strenge Kantianer hat erwiesen, dass das magisch Schaffende mit Kants a priori organisierendem Noumenon zusammenfällt, welches Noumenon faktisch existiert. Dieses organisiert von sich aus auch den Leib. Sein Organisieren ist insofern recht eigentlich ein organisches Denken
, das auch der Ur-Materialisierung, die unser körperliches In-die-Erscheinung-Treten bedeutet, zugrunde liegt, denn alles, was es leistet, entspricht im höchsten Grade dem, was der Verstand auf der Ebene der Vorstellungen tut.
Was hier nun organisiert, können wir seinerseits im Fall des Einzelnen, das hier wie nach dem Vorbild einer platonischen Idee Organe schafft, erhält und regeneriert, auch nur in Form einer Vorstellung
, welche Wirklichkeit schafft, begreifen, obschon unser verständlicher Begriff einer wesentlich unbegreiflichen Wirklichkeit gewiss nur im Sinn einer entfernten Analogie gerecht wird. Auf Einzelheiten kann ich mich hier nicht einlassen: man studiere das betreffende Werk, das u. a. auch erklärt, inwiefern Vernunft
rein aus sich heraus Gesetze schafft. Hier stelle ich einfach fest, dass der Satz Vorstellung schafft Wirklichkeit
für die Gesamtheit des Menschenlebens gilt. Nun, unter diesen Umständen brauchen wir uns nicht darum zu bemühen, nach einem Woher?
der Vorstellung weiterzufragen. Der Sinn — der lebendige Inhalt jeder Vorstellung — schafft eben den Tatbestand. Der Urquell, den wir nachweisen können, liegt letztlich im Sinne selbst, soviel der Vermittlungen zwischen dem jeweiligen Ur-Sinn, dem letzten persönlichen Zentrum des jeweiligen Sinneszusammenhangs und dem, was eine Entscheidung nun tatsächlich jeweils auslöst, bestehen mögen. Denn die äußeren Motive sind ihrerseits immer nur aktuelle Vertreter und Sinnbilder tieferen rein innerlichen Wollens (wessen Begriff ich hier natürlich ganz unpräzis verwende, etwa im Sinne Schopenhauers). Deswegen lebt jeder doch durchaus sein persönliches Leben, was immer ihm zufalle, deswegen hat jeder ein streng persönliches Schicksal.
Es ist ein rein Geistiges, was ich eben Sinn
heiße, und dessen Erscheinung Erkenntnistheorie, die das Lebendig-Wirkliche auf der exzentrisch belegenen Fläche der Theorie betrachten muss, nicht anders wie als Vorstellung
begreifen kann, aus der alle lebendige Wirklichkeit entspringt. Damit wäre denn die Frage, woher die Vorstellungen kommen, soweit sie zur Widerlegung der Freiheit dienen soll, als falsch gestellt erledigt. Wohl mag es sein, und wahrscheinlich ist es so, dass der letzte Urgrund alles Schaffens jenseits des persönlichen Subjekts, in der Dimension des Transsubjektiven, liegt. Doch dies ändert an der Lage der Dinge vom Standpunkt der Freiheit nichts. Freiheit ist letztlich die Fähigkeit zu persönlich bestimmter Magie, und damit die letzte uns bekannte Blüte auf dem Stamm des unter allen Umständen magisch schaffenden Lebens.
Jetzt können wir dem Problem von Freiheit und Norm seine letztgültige Einstellung geben. Graf Hardenberg zeigte Ihnen gestern, dass alle bekannten Regeln des Okkultismus sich bewähren, vorausgesetzt, dass jemand okkulte Fähigkeiten hat. So liegen die Dinge, von der Freiheit aus betrachtet, mit allen Normen. Im geordneten Ganzen der Welt — und sie ist durchaus geordnet — gibt es kein gesetzloses Geschehen. So äußert sich auch die Freiheit nie anders als normgemäß, ob der Magier zaubert, der Dichter singt, der Mächtige regiert, der Richter Gerechtigkeit übt oder der Gottsucher sich von Erdenbanden enthaftet. Doch die Norm präjudiziert nichts über die innere Notwendigkeit. Im Fall des zu Geistbewusstsein gediehenen Menschenlebens ist es vielmehr die Freiheit, die sich gesetzmäßig auswirkt. Erst muss sie da sein. Man muss dichten können, ehe die Regeln der Poetik sich bewähren. Man muss sich erst innerlich für das Richtige entschieden haben, ehe man mittels der Rechtsnormen ein gerechtes Urteil fällen kann. Man muss erst mächtig sein, ehe die Bindungen der Macht sich offenbaren. Man muss erst Gott suchen, ehe die Normen dieses Wegs sich manifestieren. Man muss Magier sein, wenn die Befolgung der okkulten Gesetze zu Erfolg führen soll. Die Freiheit, d. h. das magische Können, ist das Primäre. Daraus folgt denn, dass nicht der Magier im weitesten Verstand sich vor dem Wissenschaftler zu rechtfertigen hat, sondern umgekehrt. Bevor Epimetheus Stoff zum Nachdenken, Beweisen und Widerlegen hatte, musste Prometheus ihn vorgebildet haben. Das tiefste Wort von Driesch war: ich glaube, dass es Freiheit gibt. Mit ihm setzte er recht eigentlich die Freiheit. Ein Jenseits dieses Setzens gibt es nicht. Woraus sich denn weiter der Sinn der Verurteilung des Zweifels ergibt, der wir bei allen Religionsstiftern und Weisen begegnen: Zweifel lockert und lähmt die höchsten Triebfedern des Menschen. Zweifel vernichtet die Freiheit.