Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Grenzen der Menschenkenntnis

Erfassen des ganz Besonderen

Diese kurze Erwägung erledigt zunächst grundsätzlich zweierlei. Erstens die typische Menschenverachtung dessen, der den Menschen nur nach dem Massenverhalten der Menschen beurteilt: er weiß vom eigentlichen Menschenwesen nichts. Wer auf das Wesen allein sieht, wie der Heilige, findet bekanntlich, im Gegensatz zum praktischen Menschenkenner, jeden, auch den geringsten, ehrwürdig. Sie erledigt zweitens den Anspruch des Analytikers auf Verstehen. Was er Verstehen nennt, ist nur exakte Bestimmung des Unpersönlichen am Menschen, nämlich des Materials, mittels dessen sich das Einzige, welches jeder wesentlich darstellt, ausdrückt. Damit wären wir denn zum Problem wesentlicher Menschenkenntnis gelangt. Als solche ist allein das Verstehen des Einzigen in seiner Einzigkeit anzuerkennen, d. h. das richtige Erkennen des Jenseits dessen, was der Politiker einerseits, der Analytiker andererseits am Menschen sieht; und dies will weiter heißen: das richtige Erfassen des ganz Besonderen, was einerseits die herauszuanalysierenden Elemente, andererseits die praktischen Resultanten und Resultate eines gegebenen Lebens von dessen Standpunkt bedeuten.

Auf diese subjektive Bedeutung kommt letztlich alles an, weil im Sinn des Empirischen allererst das eigentlich Lebendige liegt; weil auf dem Gebiet des Lebens die Bedeutung den Tatbestand nicht allein schafft, sondern recht eigentlich dieser ist. Nur weil die Dinge so liegen, ist das Tun des bedeutenden Menschen aus allgemeiner Menschenkenntnis nicht voraussehbar und aus analytischen Voraussetzungen nicht zu begreifen, während freilich zugestanden werden muss, dass das Sinngebende des Persönlich-Einzigen bei der Mehrzahl gegenüber dem Allgemein-Menschlichen und Elementaren eine so geringe Rolle spielt, dass praktische Menschenkenner und Analytiker allem Anschein nach die Betreffenden auch persönlich verstehen. Tatsächlich tun sie es aber nicht, denn jenen ist das praktische Ergebnis deren jeweiligen Handelns, diesen deren Triebgrundlage das Zentrum, auf welches sie alles beziehen. Kein Wunder daher, dass der große Versteher typischerweise kein praktischer Menschenkenner ist und die Ehrfurchtslosigkeit der Analyse perhorresziert: in bezug auf das Wesen bedeutet das, was jene bemerken, nur das Ausdrucksmittel. Wer seine ganze Aufmerksamkeit allein auf den Sinn richtet, dem muss, solang er in dieser Einstellung verweilt, entgehen, was in der Region der Buchstaben geschieht oder geschehen kann.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Grenzen der Menschenkenntnis
© 1998- Schule des Rades
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