Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Grenzen der Menschenkenntnis

Niveaubestimmung

Nun kann man aber einwerfen: wie soll einer diese Frage richtig beantworten, wenn des anderen Niveau zu sehr über oder unter dem eigenen liegt und man nur das verstehen kann, was einem gleicht? Der Einwurf ist stichhaltig. Niveaubestimmung im geforderten Sinn ist aber trotzdem möglich, weil in seiner Sphäre ein Wesen ebenso unmittelbar auf jedes andere einwirkt, wie in der physischen ein Körper auf den anderen, und spezifische Wirkungen auslöst. Hiermit hätten wir ein bisher unbeachtet gebliebenes Moment in unsere Betrachtungen hineinbezogen. Es gibt nicht nur Verstehen des Bewusstseins, sondern auch Verwandlung des Unbewussten. Der Große zieht unmittelbar hinan, der Kleine herab. Es steigert der eine, es trivialisiert der andere.

Indem Menschen sich gegenseitig polarisieren, treten Spannungen auf, die ihr ursprüngliches Gefüge verändern, die Komponenten lockern und damit eine Erweiterungsmöglichkeit schaffen, die für den Einzelnen allein nicht besteht. Nur weil dem also ist, verehrt die Menschheit die Großen, nur deshalb ist Lehrerschaft möglich, nur deshalb hängt bei der Wirkung von Büchern und Vorträgen alles davon ab, dass der Schreiber oder Redner seinem eigenen Niveau nicht untreu ward, nur deshalb hebt Glaube und Idealisierung. Also gibt es einen Weg, über die Grenzen des eigenen Niveaus hinauszugelangen: es ist der des Experimentes, der Prüfung der Wirkung, welche ein Wesen auf das andere naturnotwendig ausübt. Zum Zweck der objektiven Erkenntnis ist auf diese Weise meines Wissens noch nie experimentiert worden. Aber wenn es wahr ist, dass ein Wesen notwendig auf das andere wirkt, so liegt die fragliche Möglichkeit dermaßen auf der Hand, dass wir von jeder weiteren Begründung absehen können. Und diese Möglichkeit gilt ebenso für die Bestimmung des eigenen wie für die von fremdem Niveau. Anders als durch Erfahrung kann sich keiner überhaupt kennenlernen. Dem Bewusstsein gegenüber ist die eigene innere Natur genau so Außenwelt wie die physisch-äußere. Da sie ferner kein statisches Sein, das ein für allemal da ist, sondern ein dynamisches Werden, sich in der Wirkung Verwirklichendes darstellt, so muss sie betätigt werden, um erfahren zu werden.

Bloße Introspektion gibt niemals ein exaktes Bild. Dann aber ist der unbewusste Teil der psychischen Natur, welcher über drei Viertel ihrer in sich begreift, und zwar nicht allein ihre triebhafte und gattunghafte Unterwelt, sondern auch ihr Höchstes und Geistigstes, den Urgrund aller schöpferischen Produktion, dem Bewusstsein überhaupt nicht unmittelbar zugänglich. Nun hat psychoanalytische Forschung festgestellt, dass das triebhaft-Unbewusste sich in Ausdruck und Gebärde, im unwillkürlichen Denken und Handeln unzweideutig äußert, dass es also an seiner Wirkung bestimmt werden kann; entweder der normalen, an anderen beobachteten, oder der experimentell hervorgerufenen, welcher Prozess eben Psychoanalyse heißt. Folglich besteht die Möglichkeit, das Gebiet möglicher Erfahrung zu erweitern. Durch analytisches Experimentieren an sich ist das tiefste Wesen eines Menschen, wie oben begründet, freilich nicht zu bestimmen, wohl aber durch der Sachlage entsprechendes Experimentieren. Niveau wirkt unmittelbar auf Niveau. Aus persönlicher und historischer Wirkung, aus Vitalität, Dynamik und Stil, kurz aus alledem, was dem Geschichtsschreiber Verstehen nachträglich ermöglicht, ist auch beim jeweilig Lebenden der Mittelpunkt des Sinneszusammenhanges zu bestimmen, der jeder Sonderäußerung bei ihm und nur bei ihm die ihm eigentümliche Bedeutung gibt. Es muss dazu, als Voraussetzung, nur das Primat der Niveaufrage anerkannt werden, und das unbedingt Entscheidende der Wirkung. Deren Beweiskraft wird auch durch Missverstehen nicht in Frage gestellt, weil sich dessen jeweilige Gründe — mangelnde Ausdruckskraft oder Unreife beim Wirkenden, Abwehr gegen Neues, Störendes, Missgunst, Antipathie — ihrerseits unschwer feststellen lassen.

Das hier in Frage kommende entsprechende Experimentieren besteht also in bezug auf sich selbst darin, dass der Mensch seine Wirkung (im weitesten Sinn) als schlechthin beweisend hinnimmt und aus ihr die Konsequenzen zieht, die zur richtigen Niveaubestimmung führen; in bezug auf andere jedoch in schlechthin hingebender Einstellung. Ohne restlose Hingabe an ein anderes Wesen kann sich dieses auf einen nicht auswirken. Denn bei der erforderlichen Wirkung handelt es sich um grundsätzlich Gleiches, wie bei der eines chemischen Reaktivs auf das Reagens: umverwandelnde Wirkung. Nur am Maßstab der Wandlung des eigenen Wesens gelingt Bestimmung des fremden. Und die entsprechende Wandlung gelingt ihrerseits nur dort, wo dies die Einstellung des Bewusstseins nicht verhindert. Dies ist der Grund, warum Große bei Lebzeiten von schlichten Seelen beinahe immer besser verstanden wurden als von klugen Leuten, und warum alle Große den Geringen, die sie verstehen wollten, besondere Ehrfurcht erwiesen: einen anderen Weg zur Wesenserfassung als den der Hingabe gibt es nicht. Woraus denn der allgemeingültige Satz folgt: Verstehen im wahrsten Sinn ist eine Frage der Fähigkeit zur unbefangenen Passivität.

Dieser Satz besagt zugleich, dass nur der, welcher nichts vom anderen will, der theoretisch Eingestellte, in diesem höchsten Sinn verstehen kann. Er erklärt zugleich ganz, warum der große Versteher typischerweise ein schlechter praktischer Menschenkenner ist, und warum dieser, umgekehrt, die anderen gar nicht versteht: als Wollender und Handelnder tritt er aus seinem persönlichen Wesenszentrum nicht heraus; die anderen sind ihm nie mehr als die eigenen Elemente, nämlich Ausdrucksmittel. Der gleiche Satz präzisiert endlich den Wahrheitsgehalt der These, dass man nur das verstehe, was man liebt. Insofern der Liebende das Geliebte unbedingt bejaht und sich seinem Einfluss rückhaltlos hingibt, ist er als Versteher freilich in einer Vorzugsstellung. Aber andrerseits ist der Liebende nicht uninteressiert. Woher denn kommt, dass Liebe nicht allein sehend, sondern auch blind macht.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Grenzen der Menschenkenntnis
© 1998- Schule des Rades
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