Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Der natürliche Wirkungskreis
Tiefe, Klarheit und Exaktheit
Es bedeutet nichts Zufälliges, ob ein Mensch in die Ferne oder nur in nächster Nähe wirkt, ob sein persönliches Gesetz Intimität verlangt oder Distanz, ob er einen Weltimpuls verkörpert oder nur Verwandtes fördert, ob er eine zeitlose Macht darstellt oder eine zeitlich begrenzte. Und ebensowenig bedeutet es Zufall, welchen qualitativen Charakter seine Wirkung zeigt. Hier handelt es sich um Notwendigkeiten genau der gleichen Art, wie bei den Unterschieden des Kraftfeldes von Atom und Stern, oder den verschiedenen Reaktionsarten von Säure und Salz. Über den absoluten Wert präjudizieren diese Unterschiede freilich nichts. Wer nur auf Wenige wirken kann, mag unter Umständen den letzten Dingen persönlich näherstehen als der Weltbeweger. Aber diese Erwägung präjudiziert ihrerseits nichts über die mögliche Bedeutsamkeit im irdischen Leben, und dies ist der allgemein verkannte Punkt; es wird verkannt, dass hier Naturgesetze walten. Die Meisten finden ein Ärgernis daran, dass einige Menschen und Völker unaufhaltsam zu Großmächten heranwachsen, während andere, nicht minder wertvolle, niemals hochkommen: hier handelt es sich um Naturnotwendigkeiten. Deren Sinn nun gelingt es unschwer zu durchschauen, sobald man nur die Frage richtig stellt.
Ein Beispiel als Sinnbild für alle. Worauf beruht die Möglichkeit von Fernwirkung? In erster Linie offenbar auf der Übertragbarkeit eines geistigen Impulses in die Ferne. Diese wiederum beruht grundsätzlich auf viererlei: der Allgemeingültigkeit der Formulierungen, ihrer Gemeinverständlichkeit, der Zielsetzung auf das Allgemeinerforderliche hin und der Explosivkraft der ausgesandten Geistesgeschosse. Betrachten wir die ersten drei Punkte auf einmal. Nur der kann vernünftigerweise auf Wirkung ins Weite rechnen, welcher sich nicht im Nächsten im beliebigen Verstand erschöpft, sei es im Oberflächlichen, im privat-Persönlichen und -Nationalen oder im Zeitliche Begrenzten. Aus diesem einen kurzen Satz erhellt, warum der Deutsche — mit der einen einzigen Ausnahme der Musik1 — nur in (aus der Art geschlagenen) Ausnahmefällen direkte Fernwirkungen ausüben kann: seiner ganzen Art nach auf Intimität und Nahewirkung eingestellt, deshalb das Allgemeingültige in Form eines so Besonderen ausdrückend, dass nur seltene Nicht-Deutsche überhaupt verstehen, was er meint, dabei unklar in der Linienführung und unfähig, Einzelheiten zu übergehen, muss er sich im Naheliegenden verfangen, weshalb sein Bestes in der Regel erst menschheitsbedeutsam wird, nachdem es in Formen wiedergeboren ward, die den Gesetzen möglicher Fernwirkung besser Rechnung tragen. Aus der gleichen Allgemeinbestimmung erhellt andererseits, warum der Brite als Politiker, der Franzose als geistiger Formulierer sofortige Weltwirkung ausüben muss: jener in dem, was er tut, dieser in dem, was er sagt, erfüllt vollkommen die Gesetze möglicher Übertragbarkeit auf jedermann. Grundsätzlich gleiche Verhältnisse entscheiden, mutatis mutandis, über die Weite des Wirkungskreises im Sinn der Zeit. Hier reicht dieser desto weiter, je allgemeingültiger im dreifachen Verstand von Tiefe, Klarheit und Exaktheit ein Geist sich ausdrückt.
Denn je tiefer ein Problem erfasst ist, desto unabhängiger erscheint die Gültigkeit seiner Fassung von aller empirischen Bestimmtheit; je klarer formuliert, desto allgemeiner wird es verstanden; und je exakter der Ausdruck, desto unmittelbarer offenbart es seinen letzten und deshalb zeitlos gültigen Sinn. Die interessanteste Bedingung möglicher Fernwirkung nun liegt im viertgenannten Moment beschlossen, in der Explosivkraft der ausgesandten Geistesgeschosse; sie beweist nämlich, dass Fernwirkung auf geistigem Gebiete analogen Gesetzen folgt wie auf dem der Artillerie. Dass nur solche Geister stark wirken, deren Person starke Spannungen in sich verkörpert, leuchtet ohne Erläuterung ein: nur wer Bewegung in sich trägt, kann solche übertragen oder einleiten; schon für sich selbst fühlen nur gespannte Naturen einen Antrieb zum Fortschreiten. Aber das Gleiche gilt von scheinbar abstrakten Formeln. Diese enthalten genau so viel Spannung, als sie Gegensätze einerseits unausgeglichen in sich beschließen, andererseits in solcher Anordnung, dass die Energie, sobald ein Zündstoff einspringt, frei wird. Daher die Explosivkraft des Paradoxes. Das Paradoxon entspricht auf geistigem Gebiet in allen Hinsichten dem Sprengstoff auf physischem; indem es Gegensätze in sich verdichtet, ohne sie zu lösen, bewirkt es selbsttätige Lösung in dem, dessen Verstehen es entzündet; solche Lösung aber bedeutet, wo die verdichteten Gegensätze stark genug waren, richtige Sprengung. Daher die immer erneute Wirkung Lao Tses, Heraklits, Christi, etlicher Inder, neuerdings Nietzsches, völlig unabhängig von Ort und Zeit. Oberflächlichem Denken bleiben sie unzugänglich, denn ihre Worte enthalten kein Wissen
, das sich erlernen ließe.
Erst im jeweiligen Verstehen
, und zwar von letzter Tiefe her, erweisen sie ihre Wahrheit, denn dann bewirken sie Wissen, und zwar das dem jeweiligen Menschen genau gemäße. Eben daher die Möglichkeit immer erneuter Ausdeutung; daher, objektiv betrachtet, ihre Unerschöpflichkeit. Nur Paradoxa als Geistesgeschosse tragen insofern unabsehbar weit im Raum und in der Zeit. Das nächstbeste vom Standpunkt möglicher Fernwirkung stellt die prägnante Formel dar, die Formel also, welche alles sagt, was sie meint, doch nichts darüber hinaus: sie gibt die großen Umrisse dessen an, was zu erfassen ist, und zwingt dadurch den, welcher sie aufnimmt, allein auf die Resultante und nicht die Komponenten achtzugeben. Hierher rührt die zwingende Macht von Napoleons Armeebefehlen, auf Grund deren die Soldaten marschieren mussten; hierher die Tatsache, dass nur Meister der Prägnanz jemals in ihren eigenen Formulierungen fortgelebt haben. Verweilen ist Statik, nicht Dynamik; Ausführen hält auf, ermüdet, von dem ganz abgesehen, dass keine Ausführung anders als in Funktion von raumzeitlich Begrenztem denkbar ist. Hieraus erklärt sich denn, umgekehrt, dass Langstieligkeit und Umständlichkeit bei einem Geist nur insofern er auf Nächstliegendes Einfluss haben will, und zwar auf dieses allein, keinen Einwand gegen ihn bedingen; will er lebendig fortwirken, dann darf er nicht umständlich sein. Aus welcher Erwägung noch einmal verständlich wird, weshalb der Deutsche so schwer europäische Bedeutung — von Weltwirkung zu schweigen — erlangt: er ist wesentlich umständlich, nur ausnahmsweise gespannt und der Todfeind der Paradoxie. Er ist wesentlich unexplosiv, und da er überdies partikularistisch ist, so hat er, was immer er wolle, mit der einen Ausnahme der Musik, von Hause aus keinen natürlich-weiten Wirkungskreis.
1 | Vgl. über diesen besonderen Fall und auch einen bestimmten Aspekt des hier nur kurz behandelten Problems meine Studie Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen in Philosophie als Kunst. |
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