Schule des Rades
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist
II. Ökumenische Spannung und Weltüberlegenheit
Veränderung und Steigerung
Unsere Welt ist ein in Spannung und Rhythmus zusammenhängend schwingendes Ganzes. Keine absolute Ruhe gibt es in ihr; ihr Charakter ist ewige Bewegtheit. Ihren Höchstausdruck erreicht diese dort, wo das Jenseits der Natur, das Leben, sich durch deren Elemente hindurch manifestiert. Hier ist kein endliches Festfahren der Bewegung in stereotypem Kreislauf abzusehen, hier ermöglicht die ständige Beschleunigung von innen her, die eben das Leben bedeutet, unbegrenzte Veränderung und Steigerung. Aber jede Bewegung als solche ist notwendig, von irgendwoher betrachtet, einseitig. Im Jugendzustand eines Systems gilt die Einseitigkeit schon von der Richtung der Teile in bezug auf den Sinn des Ganzen; hier schließt kein allgemeiner Rhythmus alle Sonderrhythmen in sich ein; diese führen erst, in gegenseitiger Auseinandersetzung, einem solchen langsam zu. Daher die Einseitigkeit aller bisherigen Kulturen. Die unsere erscheint nun von allen gewesenen als die einseitigste. Aber da sie zugleich die gespannteste und bewegteste ist, so bereitet gerade sie, indem sie die ganze Menschenwelt in Schwingung versetzt und damit alle Isoliertheit aufhebt, dem Idealzustand der ökumenischen Spannung den Weg. Diese bedeutet nicht Ausgeglichenheit der alten Gegensätze, sondern deren Kontrapunktiertheit von einem höheren inneren Standpunkt aus, dessen Bestimmen die Geschichte in Übergeschichte verwandeln würde. — Eine anschaulichere und überzeugendere Illustration dieser Wahrheiten wäre kaum zu erdenken gewesen, als sie uns gestern Herr von Raumer, der Gründer der Zentralarbeitsgemeinschaft von Arbeitgebern und -nehmern, in seinem Vortrag über die Fruchtbarkeit der Gegensätze in Politik und Wirtschaft gab. Er zeigte uns am Beispiel des Weltkriegs sowohl wie des seitherigen Halbfriedenszustands, insbesondere des Klassenkampfs, wie gerade die Gegensätze, ihrer eigenen Absicht entgegen, durch die Natur der Dinge gezwungen, zu einer neuen Zusammenfassung auf höherer Ebene hinleiten.
Mag zunächst überall noch — und vielleicht noch auf lange hinaus — die Unvernunft regieren: schon heute kann kein Einsichtiger daran zweifeln, dass die Entwicklung zwangsläufig der Erledigung des Imperialismus (im weitesten Sinn: auch die Sozialdemokratie vertritt ihn, insoweit sie die Herrschaft einer Klasse über alle anderen anstrebt) und der Ersetzung seiner Idee durch die der Assoziation und Zusammenarbeit zuführt. Deutschland und Frankreich werden einmal zusammengehen müssen, sofern sie nicht beide zugrunde gehen wollen; nicht viel später wird ganz Europa, ja vielleicht die ganze weiße Welt sich in ähnlicher Zwangslage befinden. Ebenso werden sich, innerhalb der Einzelvölker, die heute feindlichen Klassen zu einer neuen, auf Arbeitsgemeinschaft fußenden Volksgemeinschaft zusammenschließen müssen, denn die heute herrschende Einstellung wird bald den Interessen jedes Einzelnen widerstreiten. So überwinden sich die Gegensätze selbst, nicht indem sie sich ausgleichen, sondern indem sie Vereinigungen auf höherer Ebene Platz machen. Ich beginne mein Schlusswort gerade mit einem Hinweis auf Raumers Vortrag, weil der Fortschritt auf dem von ihm behandelten Gebiet beinahe durchaus dem Weg der Harmonisierung toter Stoffe und Kräfte gleicht, woraus erhellt, wie sehr das geistig Sinnvolle zugleich der Natur der Dinge entspricht. Im Reich der Politik und Wirtschaft leitet nicht antizipierter Sinn, sondern ad absurdum geführter Unsinn zum Idealzustand hinüber; nicht weil sie wollen, sondern weil sie müssen, verwirklichen hier die blinden Menschen zuletzt das Höhere (aus welcher Erwägung heraus Sie vielleicht besser als bisher verstehen werden, weshalb ich mich vorzüglich an die Wirtschaftsführer wende und diesen tiefere Einsicht einzuflößen suche: hier erweist sich das Sinnvolle zuerst als das Zweckmäßige, weshalb es am leichtesten einleuchtet; hier kann Sinnesverwirklichung zugleich am leichtesten gelingen, weil solcher hier die größten Mittel zu Gebote stehen). Aber der Sinn wird realisiert: hier liegt der springende Punkt.
Der praktischste Zweig des praktischen Lebens erweist unmittelbar, dass die grundsätzlichen Behauptungen des Einführungsvortrags zutreffen. — Ein Pädagoge, Lyzeumsdirektor Bojunga, zeigte Ihnen darauf, wie der normale Weg von der Gärung der Jugend zur Klassik des Mannesalters — denn dem Jüngling gegenüber wirkt jeder Erwachsene recht eigentlich als Klassiker — seinerseits nichts anderes bedeutet, wie den Übergang von Partialspannungen zu immer umfassenderen; damit war der äußere Gang des Geschehens vom Werden der Sterne über den Fortschritt der Einrichtungen in Politik und Wirtschaft bis zum Reifen des Menschen als einheitlich erwiesen. Aber bis hierher blieb die Eigeninitiative des Geistes außer Spiel; bei allen Spannungen handelte es sich um natur- d. h. trieb- und umständebedingte.
Leo Baeck zeigte uns nun, indem er der Welt des Fertigen der Antike die Welt des unendlichen Werdens der Bibel gegenüberstellte, wie jeder geistig-seelische Fortschritt, zuletzt der über die Endlichkeit, den Tod hinaus, der sich alsdann zum Weg der Wiedergeburt verwandelt, im selbstherrlichen Erzeugen oder, was metaphysisch dasselbe bedeutet, im entschlossenen Aufsichnehmen von Spannungen beruht, die das Leben von sich aus über seine Naturebene hinauserheben. Die als solche nie auszugleichende Spannung zwischen Gott und Mensch, welche Israel setzte, ist der psychologische Urgrund aller abendländischen Dynamik, die aller bisherigen menschlichen Dynamik überhaupt überlegen ist. So gilt es auf geistig-seelischem Gebiet erst recht keinen Ausgleich zu suchen, sondern im Gegenteil, Höchstspannung, sofern man nach dem Ideale strebt. Diese nun bedingt, wie Erwin Rousselle uns dartat, immer zugleich eine Spannung zwischen Mensch und Welt, weshalb die Tragödie das eigentlich typische Schicksal jedes Helden ist — wer aber überhaupt eine Spannung uns bedingt durchsetzen will, will notwendig auch Heldentum. Gerade hier jedoch zeigt sich, wie sehr die Einseitigkeit den eigentlichen Weg darstellt zur Universalität in einer noch unfertigen Welt. Jedesmal, wo ein Held fiel, war es recht eigentlich zu spät. Denn sein Untergang, die naturnotwendige Folge der Überspannung der Gegensätze, die er hervorrief, hob diese gleichzeitig auf, so dass das Einseitige, sterbend, diesen seinen Charakter verlor. Daher die Bedeutung von Christi, von jedes Heilands Tod. Damit wäre denn das Heldenethos, nicht das des Allversöhners, als das eigentliche Ethos des Sinnesverwirklichers erwiesen. Nicht umsonst wirkte deshalb, nächst dem von Baeck, kein Vortrag im Zusammenhang der Tagung so elementar, wie der des Kriegers: denn in einer Welt, welche Spannung und Rhythmus zum Wesen hat, bedeutet der Soldat recht eigentlich den Prototyp.