Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Der natürliche Wirkungskreis

Erkenntnisfehler des Neids

Über die Grenzen möglicher Selbsterkenntnis habe ich mich im vorhergehenden Kapitel bereits ausgesprochen. Hier liegt mir einzig ob, den eingangs bestimmten Gedankengang bis zum logischen Ende zu durchmessen. Jeder Mensch muss, so fanden wir, seinen natürlichen Wirkungskreis erkennen und rückhaltlos dessen Grenzen akzeptieren, denn diese Grenzen gelten unter allen Umständen absolut.

Nicht anders muss jeder zu jedem anderen stehen. Wäre das mit diesen Sätzen gesteckte Ziel allgemein erreicht, dann stellte die Menschheit offenbar einen vollkommenen Kosmos dar, denn dann wirkte jeder genau an der ihm zukommenden Stelle; jedem würde selbstverständlich zugestanden, was er ist, und Höchstleistung wie Höchstgeltung, wahrem Wert entsprechend, wären jedem gesichert. Wie kommt es nun, dass seiner Begründung selbst im Fall vorhandener Einsicht, wie alle Erfahrung beweist, schier unüberwindliche psychologische Hindernisse entgegenstehen? Dass beinahe jeder sich für mehr oder ein anderes halten will, als er ist, dass Vorzüge anderer typischerweise beneidet, anstatt benutzt werden? Warum wird, gemäß Goethe, vom bedeutenden Menschen grundsätzlich verlangt, dass er sich für einen Esel halte? Warum gilt Bescheidenheit so viel? Warum gelten die Durchschnittsmenschen, welche durch Beanstandung der Charaktereigenschaften eines Bedeutenden dessen mögliche Wirkung beeinträchtigen, nicht für gemeinschädlich, und in bezug auf sie selbst beurteilt, für anmaßender, als das arroganteste Genie jemals war? Hier liegt ein weiterer Erkenntnisfehler vor. Erst wo auch dieser behoben ist, können die bisher gewonnenen Erkenntnisse fruchtbar werden.

Der Erkenntnisfehler liegt in dreierlei. Erstens darin, dass die Naturtatsache eines gegebenen Wirkungskreises in Funktion des Menschenwerts beurteilt wird; zweitens im Verkennen des Umstandes, dass es sich bei allen Unterschieden zwischen Menschen um solche der Art und nicht des Grades handelt; drittens im Nichteinsehen der Tatsache, dass die anderen zum Ich wesentlich mit hinzugehören. Zum ersten. Wenn Jesus lehrt, dass die Ersten sich vor Gott als die Letzten erweisen könnten, so ist dies insofern wahr, als der natürliche Wirkungskreis an sich über den Wert, der sich vermittelst seiner ausdrückt, nichts präjudiziert; in Funktion des Absoluten beurteilt, besagen irdische Bedeutungsunterschiede nichts. Neutral ausgedrückt: jeder Einzelne, als Partialaspekt des Menschheitskosmos, steht dessen Mittelpunkt von Hause aus gleich nahe; also hat niemand Ursache, sich einem nachweislich Größeren gegenüber minderwertig zu fühlen. Aber ebensowenig hat er vernünftigerweise Ursache, auf Grund seiner Erkenntnis oder Ahnung des absoluten Werts, Vorzüge im Reich des Relativen abzustreiten. Hier gilt wiederum das Christuswort:

Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist;

das heißt, in empirischem Zusammenhang ist der ganze Akzent auf die empirische Bedeutungsmöglichkeit zu legen. — Zum zweiten: Es gibt, genau genommen, überhaupt keine Unterschiede des Grades unter den Menschen, sondern allein der Art, weshalb sich die Frage des Mehr oder Weniger nur aus Irrtum stellt. Gewiss lassen sich Unterschiede im Können quantitativ begreifen. Aber das Können erhält seinen Sinn allemal vom Sein.

In dieser Hinsicht nun stellt jeder ein schlechthin Einziges dar, weshalb es ebenso sinnwidrig ist, einem anderen sein Anderssein zu neiden oder sich über dasselbe zu erheben, als wie wenn Kühe solches in bezug auf Pferde täten. Dies wird vollends deutlich aus der Erwägung des dritten der angeführten Erkenntnisfehler. Jeder Einzelne stellt, wie in Weltanschauung und Lebensgestaltung ausgeführt, gleichsam eine Abstraktion aus dem Menschheitskosmos dar, der, als unauflösliche Einheit hinter allem Einzelnen als dessen Seinsgrund steht. Deshalb gehört der andere nicht allein notwendig zu jedem Ich — es besteht ein gegenseitiges Korrelations- und Ergänzungsverhältnis zwischen den Einzelnen, nicht anders, wie zwischen den Organen im Einzelleib. Deshalb gilt nicht allein der Satz: gerade weil ich so bin, muss der andere anders sein — deshalb entspricht jedem Plus in irgendeiner Hinsicht ein korrelatives Minus, so dass, wenn Neid nicht überhaupt sinnlos wäre, jeder Einzelne jeden anderen beneiden müsste und nicht nur den allein, welcher irgendwie über ihm steht. Um auf den Sonderfall der Fernwirkung zurückzukommen: in der Nahschau ist der Kurzsichtige dem Weitsichtigen überlegen, der Mann der Intimität hat zum Nächsten naturnotwendig ein lebendigeres Verhältnis als der Weltbeweger. So braucht der in einer Hinsicht Geringere nur den Nachdruck darauf in sich zu legen, worin er den potentia Beneideten übertrifft und also bald erledigt sich der Neid als sinnlos. In Wahrheit lebt jeder unter allen Umständen für alle anderen; von der richtigen Einstellung innerhalb der Gesamtheit hängt es ab, ob er dies zu gutem oder bösem Ende tut. Insofern ist die Gesinnung, welche in anderen nur Werkzeuge sieht, viel sinngemäßer und insofern sittlicher, als jede uninteressierte und deshalb in neunundneunzig von hundert Fällen gleichgültig-passive — denn tatsächlich ist jeder, als integrierender Bestandteil des Menschheitskosmos, vom Standpunkt jedes anderen ein Organ, das zum Besten aller zu funktionieren hat.

Hieraus erklärt sich, nebenbei bemerkt, warum Herrscher und sonstige Führer, die in den anderen von Berufswegen Werkzeuge sehen, auf das wahre Wesen der Menschen, welche sie brauchen, die meiste Rücksicht nehmen. Jetzt dürfte wohl einleuchten, inwiefern das Α und Ω aller richtigen Problemstellung in Gemeinschaftsfragen darin besteht, dass man bei sich und anderen von der Tatsache eines natürlichen Wirkungskreises und dessen richtiger Erfassung ausgeht. Sobald man sich selbstverständlich so akzeptiert, wie man tatsächlich ist, erledigen sich alle falschen Fragestellungen und hören daraufhin die aus ihnen hervorgehenden häßlichen Wirklichkeiten zu bestehen auf. Und es ist gar nicht schwer, sich also zu akzeptieren: jeder bejaht sich selbst doch absolut. Zu diesem bejahten Ich gehören notwendig auch dessen Grenzen. Deswegen will niemand wirklich ein Anderer sein, als er tatsächlich ist: und würde ihm dies nur klar, und würde ihm weiter klar, dass er seinen höchsten Ehrgeiz unter allen Umständen nur bei Anerkennung seines natürlichen Wirkungskreises befriedigen kann, so akzeptierte sich jeder selbstverständlich in seinem Sosein. Er tat dies ja zu allen Zeiten berufsständischer Bindung. Damals herrschte ein Minimum von Neid. Was wir hier vertreten, ist nichts weiter als eine Wiedergeburt des berufsständischen Gedankens auf höherer Erkenntnisebene.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Der natürliche Wirkungskreis
© 1998- Schule des Rades
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