Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Der natürliche Wirkungskreis
Bildung der Menschennatur
Bei allem Gesagten handelt es sich, wie man sieht, um Bildung der als solchen akzeptierten Menschennatur, unabhängig von allen moralischen Vorurteilen. Nur so verstandene Bildung führte je zum Heil. So bewährt sich denn die Betrachtung des Menschen als einer Naturtatsache auch auf der Ebene, die allein dem weltunbekümmerten Sollen
vorbehalten scheint. Zum Schluss denn noch ein paar Worte darüber, wie der Einzelne von sich, unabhängig von den anderen, denken sollte. Er sollte zunächst ein für allemal anerkennen, dass jede Enttäuschung seine alleinige Schuld ist, denn bei genügendem Urteil, das jeder doch von sich verlangen darf, hätte er sie vermieden. Er sollte ferner grundsätzlich alles von sich und nichts von anderen verlangen, unter keinen Umständen Verständnis, denn dieses Meistgeforderte ist es, wie das vorige Kapitel zeigte, was nur in seltenen Ausnahmefällen je statthat und statthaben kann.
Ich persönlich halte jeden nicht Unbegabten, der an Nichtverstandenwerden leidet, für unmittelbar verächtlich. Dann sollte jeder seine unwillkürliche Wirkung ein für allemal als entscheidenden Wirklichkeitsbeweis akzeptieren. Gewiss ist der Einzelne an Verkennung und Missverstehen und Widerständen nicht notwendig schuld
. Aber unter gewissen Bedingungen bedeuten diese hindernden Umstände eben notwendige Reaktionen auf seine Natur, zu deren Änderung nur Tieferverstehen der Lage führen kann. Der Einzelne muss also seine Wirkung so objektiv, nüchtern studieren, wie ein Chemiker sein Präparat, im Guten wie im Schlimmen, und an dieser Erfahrung sich selbst, seine Möglichkeiten und Grenzen genau kennen, lernen. Da des Menschen Wesen in ähnlichem Sinne ein Beharrendes ist, wie die algebraische Formel alle nur möglichen Zahleneinsätze vorwegnimmt, so lässt sich aus kleinsten Erfahrungen auf Größtes richtig schließen. Alle Werteverwirklichung geschieht unter allen Umständen durch dieses Empirische hindurch; deshalb ist bloßer Stümper, wer auf sein edles Wollen oder auf seine idealen Ziele pochend, die Frage der Mittel zur Sinnesverwirklichung vernachlässigt. Wie der Weg zur Hölle mit guten Absichten gepflastert ist, so ist er’s auch mit Idealen.
Man kann noch mehr sagen: wer Ideales will, muss besonders nüchtern beobachten und denken. Wer zum Tiefsten und Höchsten nicht mindestens so nüchtern steht, wie zu einem beliebigen Naturobjekt, der ist recht eigentlich ehrfurchtslos. Ja, der ist ehrfurchtslos, nicht der, welcher über das innere Müssen
der Welt- und Ich-Unterlegenen lächelt. Denn dieses Müssen ist niemals ehrwürdig; es ist immer nur Beweis dessen, dass ein Mensch in der Integration und Vertiefung bis zur Selbstbewusstseinstiefe, von der her alles in Funktion der Freiheit geschieht und das Wort Müssen seinen Sinn verliert, nicht vordrang. Dem innerlich Freigewordenen bedeuten seine sämtlichen Anlagen selbstverständlich nur Instrumente, mit und auf denen er spielt.
Der tritt keinem Mysterium in sich zu nahe, wenn er streng sachlich und nüchtern zu dem in sich steht, wovor der Unfreie in Ehrfurcht erschauert. Der ist über jede eitle Behauptung seines Soseins hinaus, denn der ist jeden Augenblick ein quasi modo genitus,
kann durch jedes Morgen jede Kritik am Heute Lügen strafen. Und dieses Freien Freiheit, nichts anderes, sollte das eine Ziel jedes sein, welcher nach Geltung strebt: denn sein natürlicher Wirkungskreis allein kennt, potentiell, keine Grenzen. Er allein darf folglich vernünftigerweise auf uneingeschränkte Anerkennung rechnen.