Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung
Leben ist schöpferischer Sinn
Das Verhältnis der Analyse zur Selbstvervollkommnung ist in erster Instanz so einfach zu bestimmen, dass die richtige Bestimmung jedem als erste einfallen muss: das Verhältnis ist das gleiche, wie das zwischen Analyse und Synthese überhaupt. Aber was bedeutet Synthese praktisch in diesem Fall? Hier beginnt gleich die Verständnisschwierigkeit. Sie bedeutet nichts anderes wie das, was man ehemals Magie und Zauberei hieß. Im Kapitel Der Weg
der Schöpferischen Erkenntnis wurde nun gezeigt, dass deren Begriff mit dem der Suggestion zusammenfällt; es wurde weiter gezeigt, dass alle lebendige Schöpfung, ihrem Sinn nach, auf Suggestion zurückgeht, wonach deren Zauberhaftes
mit der Unbegreiflichkeit schöpferischen Lebens überhaupt, als eines Urphänomens, zusammenfällt. Also sind hier weitere Zurückführungen unmöglich. Trotzdem dient die erkannte Grenze möglicher Erklärung zur Lösung unseres heutigen Problems: soll das Verhältnis von Analyse und Selbstvervollkommnung bestimmt werden, so läuft dies praktisch und technisch auf eine Grenzbestimmung zwischen der Anwendbarkeit zergliedernder Feststellung und neuschaffender Suggestion hinaus.
Theoretisch aber müssen die Dinge folgendermaßen liegen. Das Leben selbst ist schöpferischer Sinn; schon in der Gerichtetheit jedes Triebes kommt dies zum Ausdruck. Wenn Suggestion in Worten lebensschöpferisch wirkt, so beweist dies Gleiches in der höchsten Potenz, denn Worte sind nichts anderes als Träger geistigen Sinns. Eben das Gleiche beweist aber schon die Tatsache, dass das Einleuchten
, das auf die der Absicht nach völlig unsuggestive Deutungsarbeit des Analytikers erfolgt, das eine ist, worauf es bei der Heilung ankommt. Mag eine Deutung, objektiv betrachtet, noch so richtig sein: bevor sie einleuchtete, wirkt sie nicht. Mit diesen kurzen Feststellungen ist nun bereits die wahre Bedeutung der Analyse, die allerdings nicht die ist, die ihre ersten Vorkämpfer für sie in Anspruch nahmen, in ihren Grundzügen bestimmt. Diese führt das gesamte unterbewusste Seelenleben auf Triebhaftes zurück. Das kann sie freilich tun, weil Triebhaftes das Urmaterial und Verwirklichungsmittel alles Lebens darstellt, auch des geist- und seelenhaftesten. Aber bei den Trieben selbst schon ist das Primäre der Sinn. Ihre Wesensart unterscheidet sich von der höheren Lebens nur dadurch, dass sie fixierten Sinn darstellen, wie sich denn Pflanzen und Tiere in diesem Zusammenhang allein durch ihre Fixiertheit vom Menschen unterscheiden. Das organisch Fixierte, das Tier, und Pflanzenhafte am Menschen, als welches sein Triebhaftes am besten zu bezeichnen ist, bedeutet daher nicht etwa den eigentlichen Tatbestand gegenüber vermeintlichem imaginärem Überbau, sondern nur eine besondere Sinnes-Seite im allgemeinmenschlichen Sinneszusammenhang.
Dieser nun hat sein Zentrum wesentlich nicht in den Trieben. Da dieser Sachverhalt im Kapitel Tod und Ewigkeit
schon ausführlich behandelt worden ist, so genügt hier die bloße Feststellung. Des Menschen wahres Zentrum ruht im Tiefstgeistigen. Deshalb führt Reduktion der Bewusstseinsinhalte auf deren Urmaterial, so völlig einwandfrei die Operation gelinge und so notwendig sie in vielen Fällen sei, wo pathologische Stauungen und Fixierungen vorliegen, an sich nie zur Erfassung des Kerns der Persönlichkeit; Heilerfolge, die eine andere Auffassung nahelegen, bedeuten, richtig verstanden, nie mehr als dies, dass das Lösen krampfhafter Spannungen, die Befreiung eingeklemmter Affekte, die Reduktion von Komplexen jenen freilegt, so dass er sich nun erst seinem wahren Sinn entsprechend ausdrücken kann. Deshalb beweist es, zweitens, grundsätzliches Missverstehen, im Urmaterial des höheren Seelenlebens ein Andersartiges und Wirklicheres zu sehen, als in diesem: es handelt sich um, empirisch beurteilt, gleich-Artiges und gleich-Wirkliches; um einen Sinneszusammenhang unter anderen im allgemeinen Sinneszusammenhang. Doch aus den gleichen Erwägungen wird andererseits auch klar, warum Analyse unter Umständen erforderlich erscheint. Bei den Trieben handelt es sich um die Wurzel alles Erdenlebens, wie ja der größte Geist dem Geschlechtstrieb seiner Eltern seinen irdischen Ursprung dankt. Deshalb bezeichnet die Auflösung des gegebenen Seelengefüges eine notwendige Vorstufe der Zusammenfassung auf höherer Ebene (wie denn auch alle Religionen die Katharsis der Erleuchtung vorangehen lassen) überall dort, wo solche allein das Bewusstsein in den Besitz der Urkräfte der Tiefe setzt, die unter allen Umständen den Lebensaufbau besorgen. Denn diese Urkräfte können aus ihm verdrängt sein, so dass der Mensch aus seiner Wurzel heraus zu leben außerstande scheint.
Trotzdem: dass es sich auch bei jenen um Sinnhaftes handelt, geht aus der einen Tatsache mit Evidenz hervor, dass sie dem Bewusstsein in Form von Sinnbildern erscheinen. Mit deren Deutung, ob es sich um Träume oder freie Einfälle handelt, hat es ja Analyse zum größten Teil zu tun. Nun wird aber auch klar, warum Falschverstehen des Triebhaften in seinem Verhältnis zum höheren Seelenleben — und die meisten Analytiker verstehen dieses Verhältnis falsch — so oft verderbliche Folgen zeitigt. Da Leben Sinn ist, so wirkt Verstehen unter allen Umständen schöpferisch. Und hieraus ergibt sich für unseren besonderen Fall, dass wer die Erscheinung der Sinnbilder, als welche sich die Urkräfte im Bewusstsein ausdrücken, als letzte Instanz ihres Wesens auffasst, sich buchstäblich dem Tier
verschreibt, denn das Triebhafte an sich trägt rein animalischen Charakter. Aber eben hieraus erklärt sich, dass die gleichen Sinnbilder dem, der sie als bloße Verwirklichungsmittel des Lebens richtig erkennt, die nichts Selbständiges weil nichts Letztinstanzliches sind und dem Menschen-Logos (wenn auch nicht von vornherein dem bewussten) unterstehen, zum Heil werden können. Dies meint C. G. Jung, wenn er, einigermaßen dunkel, lehrt, dem Urtümlichen wohne seinerseits eine prospektive Strebung inne.
In Wahrheit liegen hier die Dinge so — woraus sich zugleich der Streit zwischen ihm und den orthodoxen Analytikern als Missverständnis erweist —, dass die letzte Instanz im Menschen das sinngebende, schlechthin einzige Individuum ist, dessen Seinsebene metaphysisch und deshalb nicht der Region, die Analytiker erforschen, angehörig ist; dass es sich aber nur ausdrücken kann mittels des Erdmaterials. Die Psyche im Analytikerverstand ist nämlich ein genau so Erdgebundenes und Erdbedingtes, wie die Physis, und späte Zeiten werden den Analytikern vor allem das zum Verdienst anrechnen, dass sie diesen schlechthin irdischen Teil der Psyche exakt erfasst haben. Sie haben in bezug auf diesen das Gleiche geleistet, wie die Materialisten
des 19. Jahrhunderts in bezug auf die Materie. Dieses Erdmaterial — im Falle der Psyche in Bildern manifestiert — ist nun einerseits spezifisch: individuellen, andererseits generellen Ursprungs; zu diesem Generellen, also in keiner Hinsicht Metaphysischen, gehören die von Jung dem kollektiven Unbewussten zugerechneten Ursymbole, deren historischen Ausdruck wir Mythos heißen. Alles dieses Irdische und Natürliche an sich ist nun ohne jede prospektive Tendenz; die Natur an sich kennt keinen Fortschritt. Aber jederzeit kann das Natürliche zum Fortschrittsmittel des Einzigen werden, so dieser die dazu erforderliche freie Sinngebung vollzieht. Andere Verkörperung des Metaphysischen als die physische und psychische gibt es nun einmal nicht. Dies weiß denn auch alle priesterliche Überlieferung von jeher: überall verwendet sie die, selben Ursymbole als Mittel geistlichen Fortschritts, die den orthodoxen Analytikern letzte Naturinstanzen sind und den Nachfolgern Jungs (ihm selbst wohl kaum, er ist sich der Grenzen seiner Anschauung viel bewusster als jene) Offenbarungen aus vermeintlich höherer kollektiver Welt.
Die priesterliche Überlieferung zieht die Urkräfte also nicht dazu ins allgemeine Bewusstsein hinein, um den Menschen zu primitivieren, sondern um sie in den Dienst der Höherentwicklung zu stellen. Nun: mit diesen wenigen Feststellungen wäre die Brücke von der Psychoanalyse zum Streben der Schule der Weisheit bereits geschlagen. Jene befasst sich mit dem Material, aus dem jeder seelische Bau besteht, und aus dem allein folglich auch jeder Höherbau aufzuführen ist. Aber als solches gehört es, vom Standpunkt des Menschen, zum bloßen Weltalphabet; nicht darauf kommt es für ihn an, was dieses ist, sondern was mittels seiner gesagt wird. Ist Psychoanalyse für moderne Europäer so oft geboten, so liegt dies, von hier aus betrachtet, nur daran, dass sie den wahren Charakter ihrer Seelen verkennen und deshalb nicht das sagen können, was sie eigentlich wollen und meinen. Aber dieses Sagen
, das vom Menschenstandpunkt einzig Wesentliche, ist an sich völlig unabhängig vom Eigencharakter der Buchstaben. Was immer die Triebe und mythischen Bilder ursprünglich bedeuten mögen: sie können im Fortschreiten, als solche unverändert, zu Ausdrucksmitteln von Sinneszusammenhängen werden, die nie früher ins Erdenleben eingriffen.