Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung

Selbst und Ich

Wie kann dies nun geschehen? Der Weg des wahren Fortschritts (vgl. Schöpferische Erkenntnis, S. 401 ff.) lässt sich vom hier errichteten Aussichtspunkte aus besonders deutlich machen — allerdings vielleicht nur dem, welcher selbst einmal analysiert ward und daher mit den zu verwendenden Worten und Begriffen ohne weiteres konkrete Vorstellungen verknüpft. Das Urkennzeichen aller rein psychischen Gestaltung ist deren Wandelbarkeit, welche so weit geht, dass die Sätze der Identität und des Widerspruchs auf ihrem Gebiet nicht gelten1. Dies weiß jeder von seinen Träumen her. Gleiches bringen die Mythen und Märchen zum Ausdruck. Gleiches gilt aber nicht minder von aller geistigen Gestaltung, welche historisch eingriff, somit durchaus der anerkannten Wirklichkeit angehört. Ein Beispiel für viele. Dionysos, das zusammenfassende göttliche Symbol für die triebhaften Mächte des Eros, galt den Griechen als schön, und dementsprechend schön war ihre dionysische Wirklichkeit. Als aber die christliche Weltansicht die heidnische ablöste, verwandelte derselbe Dionysos sich zum Teufel, zu einem ebenso Häßlichen, wie Dionysos schön gewesen war; als solcher wurde er immer wieder faktisch erlebt. Durch die absolute Autorität der mittelalterlichen Kirche immerhin in einer gewissen Ohnmacht niedergehalten, über die er in der katholischen Welt auch nie hinauswuchs, ward er, dank Luther, welcher jene Autorität zerbrach, im germanischen Norden zeitweilig übermächtig.

Mit der Aufklärung verfiel sein Bild der Verdrängung, während die ihr zugrunde liegende massive Wirklichkeit sich seither immer furchtbarer in Taten manifestierte: man gedenke der französischen Revolution, der Greuel des Weltkriegs; auch die Tyrannei des Erwerbs- und Machttriebs beruht auf ihr. Seit einigen Jahrzehnten nun findet im Bewusstsein der geistigen Vorhut Europas ein Wiedererwachen des Teufels, aber auch zugleich dessen Rückverwandlung in Dionysos statt. Diese verläuft unaufhaltsam, seitdem jene am unabänderlich bösen Charakter des Bösen zu zweifeln begonnen hat und seine Realität doch wieder anerkennt. — Wer seine eigene Geschichte analysiert, erlebt recht eigentlich die hier skizzierte Geschichte des Teufels. Dem zusammenschauenden Rückblick wird da auf einmal klar, dass sich in der eigenen Seele, im Lauf ihrer Entwicklung, die verschiedensten Gestalten abgelöst haben, Gestalten, welche gleichwohl alle, so sehr sie sich im Charakter widerstreiten, aus gleicher Wurzel stammen. Und sucht er alsdann die Ursache der Verwandlung zu verstehen, so wird ihm offenbar, dass diese im Sinn lag, der seinem Seelenurmaterial jeweilig eingebildet wurde. Dionysos wurde tatsächlich zum Teufel, als man sein Wesen anders aufzufassen begann … Nun, wenn dem also ist, wenn unbewusste oder unwillkürliche Sinngebung solche Wunder vollbringt, dann muss gleiches auch bewusst gelingen können.

Die häufige Meinung, nach welcher bewusste Schöpfung nur zu Künstlichem und Gemachtem führen kann, ist vollkommen irrig: was nur von selbst geschehen kann, geschieht unter allen Umständen nur so. Aber Bewusstsein kann eben den erforderlichen unwillkürlichen Prozess einleiten und beschleunigen, gemäß dem von Coué entdeckten Gesetz, dass das Unbewusste auf seinen unbekannten Wegen immer genau das ausführt, was ihm Bewusstsein als Ziel vorhielt. Gewiss kann Bewusstsein den erforderlichen Prozess nicht vollkommen willkürlich beschleunigen: die Idee, die nicht interessiert, nicht einschlägt, keine Affekte auslöst, bleibt wirkungslos. Aber ich habe nie behauptet, dass es absolute Freiheit gibt. Die tatsächlich gegebene genügt andererseits vollkommen zur Ermöglichung dessen, was wir hier behaupten. So hat denn Neuschöpfung durch bewusste Sinngebung auch von jeher stattgefunden. Wer hätte nicht von Kindern gehört, welche deshalb schlecht wurden, weil ihr Triebhaftes als Schlechtigkeit gebrandmarkt wurde? Wer nicht von Sündern, Verbrechern, denen das schlichte Wort eines Erleuchteten die Reinheit der Seele wiedergab? Was sich als Böses darstellt, ist von Hause aus nur Kraft; der in diese hineingelegte Sinn ist es, der ihm den schaffenden oder zerstörenden Charakter gibt.

Von hier aus begreifen wir denn die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung überhaupt, hier zugleich die des ganz bestimmten Fortschritts, den die Schule der Weisheit herbeizuführen strebt. Diese lehrt Selbstverwirklichung, d. h. Zentrierung des Bewusstseins in einer tieferen Wesensschicht als der des empirischen Ich, welches dadurch zum bloßen Ausdrucksmittel wird. Gerade dieser kann eine Psychoanalyse, welche die Geschichte der Seele rekonstruiert und alle kausalen Zusammenhänge genau im einzelnen feststellt, unter Umständen am besten den Weg bereiten. Sie bedeutet, dem Sinne nach, gleiches wie die buddhistische Enthaftungstechnik. Indem nämlich ein Mensch sämtliche bestimmte Gestaltungen seines Wesens als historisch geworden und wandelbar erkennt, ja dies bis zu dem Grad, dass eine selbe Urkraft sich als Gott und Teufel manifestieren konnte, wird ihm klar, dass er mit jenen nicht identisch ist. Identisch kann er einzig mit dem geistigen Urgrund sein, der sie, allerdings aus Triebmaterial, aus sich heraus erschuf. Auf diese Weise wird ihm sein Selbst, im Unterschied vom Ich, ganz greifbar deutlich. Bei diesem Selbst handelt es sich um keine Konstruktion und Imagination, sondern um die metaphysische Wirklichkeit des Menschen. Es handelt sich also um ein Anderes und Tieferes, als was Jungs Schule als Selbst bezeichnet und zu dem es die ursprünglich gegebene Persönlichkeit im günstigen Falle integriert.

Dank Jungs Methode kommt allerdings oft ein Höheres zustande, als von Hause aus da war; nämlich ein insofern höheres Ich, als es individueller ist und mehr Empirisches zur Einheit zusammenfasst. Aber diese Individualität ist noch nicht das metaphysische Selbst. Sie ist dessen bestmögliches Ausdrucksmittel, dank welchem ein in Jungs Sinne integrierter Mensch, auch wo er persönlich unbedeutend ist, unter Umständen mehr metaphysische Tiefe offenbart, als ein weniger integrierter. Er ist gleichsam durchsichtiger; die anderen sehen besser durch ihn, was hinter jedem steht. Und ist er medial begabt, so mag sich auch Tiefes durch ihn offenbaren. Eben hierauf beruht wohl die Tiefenwirkung so vieler östlicher Weisen, die persönlich gar nicht sonderlich begabt scheinen. Der Mensch selbst, als metaphysisches Wesen, ist niemals tief dank dem, was sich durch ihn manifestiert: das Metaphysische ist das persönlich Sinngebende im Menschen; also ist ein Mensch persönlich tief genau nur insoweit, als er persönlich tief versteht oder tief wirkt. Vom Standpunkt der Schule der Weisheit nun kommt es einzig und allein auf die bewusste Verwurzelung im metaphysischen Selbst an, und dessen Qualität entscheidet. Aber auch dieses Selbst, nicht nur das Jungsche kann Analyse wenigstens freilegen; es räumt die psychologischen Hindernisse seiner Äußerung vorweg. Ist dies nun irgendwo geschehen, dann beginnt, auf dem Weg der üblichen Wandlung, zwangsläufig ein das Selbst zum Ausdruck bringendes neues Ich heranzuwachsen. Wobei denn bald zwei uralte Mysterien Bestätigung und richtige Deutung zugleich erfahren: das des Opfers und das der Wiedergeburt. Freilich soll man sein Ich opfern. Aber damit bringt man sein Selbst gar nicht zum Opfer — daher dessen Beseligendes: man erlebt vielmehr eine Wiedergeburt aus dem Geist. Von hier aus ist denn die Bahn frei für die Ethik der Zukunft, auf die ich erst am Schluss ein wenig näher eingehen kann. Nur so viel: wenn keiner für die psychischen Tatsachen, die er in sich vorfindet, etwas kann; wenn andererseits niemand sein Sosein, wie es ist, als Schicksal anzuerkennen braucht, weil der Sinn den Tatbestand schafft und folglich gegebenenfalls verändern kann, dann ist klar, dass alle auf statischen Tugendbegriffen fußende Ethik als falsch erwiesen und nur eine dynamische der Fruchtbarkeit und Freiheit sinngemäß ist.

1 Genauer ausgeführt steht dieser Gedankengang in meiner Einleitung zum Buch Das Okkulte (Darmstadt 1922).
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung
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