Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Geisteskindschaft
Zeuger und Empfänger
Hiermit hätten wir den richtigen Ansatzpunkt zu den Betrachtungen dieses Kapitels konsolidiert sowohl als konstituiert. Deshalb können wir nunmehr unsere Frage ohne weiteres ein klein wenig anders stellen, was zu viel deutlicheren Perspektiven führen wird. Allen mütterlichen Geistern alle Ehrfurcht! Doch beim Fortschritt des Einzelnen sowohl als der Menschheit stellen nicht eigentlich sie den Gegenpol zum Logos spermatikós dar, sondern sie gehören mit zum Gegenpol der allgemeinen Tradition. Diese nun bewegt sich auf der Ebene dessen, was wir nicht Geist, sondern Seele heißen, des Verkörperten, von selbst Gewordenen, das allein dank Befruchtung durch den Logos neu werden kann. Alles Initiatorische liegt jenseits ihrer Wesensart. Im kanonischen Verhältnis der Kirche zum Creator Spiritus hat dieser Zusammenhang sein allgemeingültiges Sinnbild. Die Kirche ist Mutter; nur wer in ihr aufwächst, hat am geistigen Erbe teil. Begnadung darüber hinaus kann aber allein durch Gott selbst erfolgen. Eben im selben Sinn konnte die Universität in der Zeit ihrer Blüte die Alma mater sein; eben in diesem Sinn stellt jede bestehende Tradition die Mutter dar, deren Verleugnen immer Unheil bringt.
Wie der deutsche protestantische Mensch organisch ärmer ist als der katholische, weil er das antik-christliche Erbe verleugnet, so ist jeder Renegat irgendeiner Tradition als solcher Selbstberauber. Hier tragen die Intellektuellen-Eltern, die ihre Kinder an der christlichen Tradition nicht teilhaben lassen oder sonst entwurzeln, eine furchtbare Verantwortung: was einer persönlich schließlich glauben muss, dazu wird er sich auf alle Fälle selbst einmal entscheiden. Doch wo keiner die letzte Selbstheit eines anderen kennt, hat er auch nicht das Recht, ihm seine geschichtlichen Grundlagen zu nehmen, wie immer er sie persönlich beurteile. Auch auf geistigem Gebiete gilt, was auf körperlichem längst erwiesen ist, dass der Proletarier schicksalsmäßig ausstirbt. Nur wer sich zur Vergangenheit bekennt, lebt in der Zukunft fort. So entstand jede neue Kultur aus Bauern, und nie aus proletarisiertem Städtertum. Nur wer die Tradition auf neue Art doch fortsetzt, wie der echte Neuerer, in dem ein Mutationsvorgang bewusst wird, übt nicht Selbstmord, indem er seine unmittelbar ererbten Wurzeln verleugnet. Die Konfessions- und sonstige Traditionsangehörigkeit ist eben in erster Instanz ein kollektiv-psychologischer Tatbestand. In diesem Verbindung-schaffenden mit dem Menschheitserbe wurzelt — um das Wichtigste zuletzt zu nennen — die ausschlaggebende Bedeutung exklusiver Kinderstube gegenüber schlechthin allen späteren Bildungsmitteln.
Da jede Mutter ihrerseits von einem Vater stammt, so ist es natürlich unmöglich, zwischen Väterlichem und Mütterlichem absolut zu scheiden, worin denn der prinzipielle Rechtsgrund der traditionellen Lehre liegt, außerhalb der Kirche gebe es kein Heil. Doch bei der Art Geisteskindschaft, die allein uns hier Problem ist, handelt es sich ausschließlich um persönliche Abstammung von einem männlich, geistigen Prinzip oder Befruchtung durch dieses. Hiermit gelangen wir denn zum kritischen Punkte unserer Untersuchung. Das Tiefste und Letzte in sich, mit dem der Mensch sich persönlich identifizieren kann, ist ein schlechthin Einziges; diese These fand in der Folge dieses Buches so oft schon Beleuchtung und Begründung, dass ich hier auf weitere verzichten darf. Als Einziges gehört das Tiefste und Letzte einer anderen Seinsebene an, als alles nur mögliche Kollektive. In der gesamten uns bekannten Wirklichkeit nun wirkt Gleiches allein auf Gleiches ein. Hieraus folgt denn rein prinzipiell, was durch alle Erfahrung als wahr erwiesen ist, dass zum persönlich, Einzigen im Menschen nur seinerseits persönlich-Einziges Zugang hat, was uns von einer neuen Seite her zur Erkenntnis von Jesus der Magier
führt, dass es schlechterdings nur persönliche Geister gibt, und dass nur persönliches Verhältnis zu diesen — genau so, wie’s die Kirche Christus gegenüber fordert — frommt, will man Wesentliches von ihnen haben. Aber diese Erkenntnis ist jetzt um eine sehr wichtige Bestimmung bereichert: nämlich die, dass nur ein Verhältnis zu dem persönlich fördert, der auf die eigene Seele zeugend wirkt. Dies hängt nun offenbar allein von der strikt persönlichen Kompatibilität zwischen Zeuger und Empfänger ab. Hier kommen, über das Typische hinaus, ebensowenig objektivierbare Normen in Frage, wie im Fall der persönlichen Neigung zweier Menschen zueinander. Aus dieser letzten Erwägung heraus dürfte nun endgültig klar werden, wie sich väterliches und mütterliches Prinzip vom Standpunkt der Selbstvervollkommnung zueinander verhalten. Mütterliche Geister können nur bilden, sagten wir. Jetzt können wir hinzufügen: dies ist darum der Fall, weil es darauf ankommt, selbst befruchtet zu werden, und dazu verhilft nicht die Mutter, sondern der Gemahl. Damit gelangen wir denn zum äußersten Paradoxon des vom Verstandesstandpunkt so paradoxen Geisteslebens. Zu Anfang behandelten wir das Problem der geistigen Abstammung, als ob es nicht anders läge, wie das der physischen.
So ist es, insofern wir Repräsentanten sind der Tradition, des psychischen Äquivalentes der Vererbung. Doch insofern wir mehr werden wollen, als wir waren, schaffen wir etwas in uns, was als Aktualität vorher nicht da war. Wenn der Einzige, gemäß den Ergebnissen von Tod und Ewigkeit
, einerseits einem transsubjektiven Sinneszusammenhang insofern angehört, als sein persönliches Ich nach oben oder rückwärts zu nicht seine persönlich letzte Instanz ist, so gilt Gleiches auch nach vorwärts zu. Wir sagten damals, es ist nicht (empirisch) derselbe, der geboren und wiedergeboren wird, genau im Sinn von Buddhas Anatta-Theorie. Ebenso ist das tiefste Selbst in sich, für das jeder Strebende lebt, empirisch beurteilt, nicht er selbst, sondern sein Kind. Der Mensch ist, als Träger der Sehnsucht, recht eigentlich seine eigene Mutter. Was aber den Vater betrifft, so ist dieser jeweils der Logos Spermatikós, welcher befruchtet. Grundsätzlich kann er ebensowohl in wie außer einem leben. Aber beim Problem dieses Kapitels geht nur das letztere Verhältnis uns unmittelbar an. Da ergibt sich denn, wir deuteten es schon an, eine vollkommene Analogie mit dem Prozess der Liebe. Nur der einem persönlich Kongeniale kann einen innerlichst fördern. Deswegen wählt in Indien der Schüler seinen Guru und nicht umgekehrt. Gleichsinnig hilft in allen mehr als technisches Können erfordernden Fällen nur der selbstgewählte Arzt, mit dem ein Übertragungsverhältnis ganz von selbst entsteht. Eben deshalb muss man die Religion, die einen erlösen soll, nicht nur für wahr halten, sondern persönlich an sie glauben. Eben daher, letztlich, die Unerlässlichkeit eines persönlichen Verhältnisses zu jedem Geist, der einen befruchten soll. Und zwar im Sinn noch so kurzer absoluter Hingabe, zu der sich jeder wiederum persönlich entschließen muss. Denn auf dem Gebiet der Freiheit gibt es ohne unser Zutun keinen Erfolg.
Das von selbst
des Schöpfungsaktes erfolgt immer erst dann, wenn wir uns dem Einfluss persönlich geöffnet haben. So verantwortet jeder letztlich selbst für das, was aus ihm wird. Er verantwortet für das Kind in sich, das er in sich schafft. Er darf sich nur dem Richtigen hingeben. Dieses Richtige zu erkennen bleibt aber seinerseits immerdar Sache der persönlichen Leistung, insofern als es das Echo im eigenen Innern richtig und rechtzeitig zu verstehen und daraufhin aus eigener Initiative die richtigen Entscheidungen zu treffen gilt. Ja das Problem ist noch verwickelter: es fehlt jeder objektive Kanon dafür, was einen fördern kann. Wohl gibt es absolut Wertvolles und absolute Werte. Aber wenn irgendwo, dann sind auf dem Heilswege Gottes Wege wunderbar. Es kann einer durch Hingabe an einen Geist, der anderen absurd erscheint, unter Umständen weiterkommen. Das hängt erstens damit zusammen, dass das konkrete Bild, das einem den geistigen Vater bedeutet, unter allen Umständen Sinnbild ist des werdenwollenden Selbstes; in der Welt des Sinnes gibt es keine absolute Scheidung zwischen Ich und Du; man meint insofern immer Tieferes, als was man benennen kann. Zweitens aber damit, dass der Charakter von Name und Form unter allen Umständen von empirischen Zufälligkeiten abhängt. Wie das Gotteserlebnis jeden im Rahmen seiner angeborenen Vorstellungen überkommt, so sind es die tatsächlich vorhandenen Zusammenhänge im Unbewussten, die über den jeweils kürzesten Weg zum Ziel entscheiden. Daher das Seltsame, dass ein an sich wenig bedeutendes Wort in einem bestimmten Augenblick geradezu zauberhaft lösend wirken kann, dass unter Umständen ausgesprochen schlechte Bücher manchen mehr gefördert haben als gute, dass mancher den Umweg über sein eigenes Schlechtes braucht. Doch dieses Zufällige und Schlechte fördert immer nur den, der es als Weg zum tieferen Sinn primär intendiert. Grundsätzlich bedeutet es selbstverständlich einen Umweg, den ich nur deshalb berühre, weil er für sehr viele unvermeidlich ist.
So musste ich persönlich um die Welt reisen, um zu mir selbst zu finden; so habe ich mich wieder und wieder Geistern hingeben müssen, die ich letztlich nicht meinte. So habe ich mancherlei Abwege, die ich auch von Hause aus als solche erkannte, gehen müssen, um überhaupt weiterzukommen. In jedem Fall aber fördern Umwege den allein, welchen persönlicher Mut zu ihrer Beschreitung treibt, und nicht Sich-gehen-lassen. Trägheit ist überall die eine Todsünde. Gerade letztere oft schon aufgestellte These nun können wir von unserem heutigen Aussichtspunkte aus besser als früher verstehen. Nur Gleiches wirkt auf Gleiches. Der Logos ist reine Initiative, reines Ethos; er sucht nur den deshalb begnadend heim, den entsprechendes Ethos beseelt. Nur handelt es sich hier eben nicht um gleichartiges, sondern polar entsprechendes Ethos: das der weiblichen Hingabe. Denn auch sie ist wesentlich Ethos und nicht Pathos; sonst gäbe es keinen Wesensunterschied zwischen freier Hingabe und Vergewaltigung.
Damit gelange ich denn zu dem, was die Meisten an der Technik der Schule der Weisheit noch immer missverstehen, obschon es überall geschah, wo überhaupt Wesensbildung Ziel war. Das geistige Selbst kann nur dann befruchtet und gesteigert werden, wenn die Strahlen des betrachteten Lichts nicht, bevor sie die Tiefe erreichen, wie es in der Optik heißt, total reflektiert werden. Das Wort Reflexion ist sinnvoll genug gebildet: beim Reflektieren im ins Geistige übertragenen Sinn handelt es sich, genau wie im Fall des Lichts, um ein Zurückwerfen der Strahlen auf die Fläche der Vorstellungswelt; was einmal auf sie projiziert ist, gelangt nimmermehr in die Tiefe des Menschen hinein und kann in ihr folglich keine Wirkungen auslösen. Wer deshalb das Innerlichste beeinflussen will, muss solche Vorkehrungen treffen, dass schon rein äußerlich einer schädlichen Einstellung vorgebeugt erscheint. Die sicherst wirkende solcher äußeren Vorkehrungen ist eben das Diskussionsverbot. Sobald einer sich darauf einstellt, Gehörtes verstandesgemäß zu diskutieren, schiebt er unwillkürlich eine Reflexionsscheibe vor seine Seele, die ihm freilich ermöglicht, das Empfangene so zu sehen, wie es der intellektuellen Verarbeitung von den bestehenden Voraussetzungen aus am besten fähig ist, ihn aber andererseits um den Gewinn bringt, zu neuen, tieferen Voraussetzungen zu gelangen. Ja, diskursive Einstellung ist schon verderblich, wo es sich nicht um Wesen- sondern Verstandesfragen handelt.
Auch der Verstand hat seine Wurzeln im lebendigen Geist. Wer nicht aus ihm sein intellektuelles Leben schöpft, sondern andauernd auf der Bildfläche fertiger Gedanken weilt, gelangt nie zu seinem eigenen tiefsten geistigen Sein. Der gelangt gerade nie zur Erkenntnis dessen, was er selbst letztlich meint, denn dieses ist nicht Funktion des Denkens, sondern des Seins. Und so steht es letztlich auch in bezug auf das, was ein anderer einem sagt. Man braucht ihm ja nicht zuzuhören. Tut man es einmal, dann sollte man sich von vornherein so einstellen, dass man nicht bloß versteht, was er sagt oder mit dem Oberbewusstsein meint, sondern welches der lebendige Sinn ist, welcher hinter der Äußerung steht. Auf ihn allein kommt es überall an. Stellt man sich nun demgemäß ein, dann dringt das Wesen des Anderen unbehindert in das eigene ein, wirkt dort befruchtend, und der Erfolg sind — nicht fremde, sondern eigene Gedanken, wo Wissen in Frage steht, ist nicht Angleichung an den andern (ob über das Missverständnis der Imitatio Christi!) bei Hingabe an sein Wesen, sondern persönliche Wiedergeburt.
So bedeutet denn reines Aufnehmen, im Gegensatz zur üblichen Meinung, den kürzesten Weg gerade zur Originalität. Niemand fürchte, durch solche Hingabe sich selber zu verlieren. Zeitweilig erscheint man selbstverständlich beeinflusst; früher oder später jedoch setzt sich das Empfangene in ursprünglich Eigenes um oder löst dieses aus, was von der Diskussionseinstellung aus nie vorkommt, aus dem einfachen Grund, dass das Eigene nie überhaupt in Mitleidenschaft gezogen ward. Denn bei diesem Eigenen handelt es sich ja nicht um ein Vorherbestehendes, sondern ein zu Schaffendes, um das eigene Kind. Dies wäre denn der entscheidende Punkt des technischen Problems. Wer sich reflexiv einstellt, hindert nicht allein das Fremde am Ein-, sondern auch das Eigene am Hervorbrechen. Die dazwischen gestellte Scheibe oder Linse, um auf das optische Bild zurückzugreifen, schließt nicht allein nach außen, sondern auch nach innen zu ab. Was ich hier ausführe, gilt von jedem inneren Wachstum ohne Ausnahme. Bei religiöser Zielsetzung war dies immer bekannt. Es gilt aber nicht minder bei jeder dem Diesseits zugekehrten oder im Diesseits verweilenden, sobald nur überhaupt Mehr-Werden und nicht Besser-Wissen um Äußerliches letztes Ziel ist. Eben hiermit hängt das so grenzenlos Produktive des Warten- und Schweigen-Könnens zusammen. Bei Ideen, Begriffen usw. handelt es sich um wirkliche organartige Gebilde. Sie müssen heranwachsen, und dazu bedarf es erstens der Zeit, zweitens der ständigen Spannung mit dem, zu dessen Ergreifung sie einmal dienen sollen. Eben diese Spannung schafft Nicht-Aussprechen. Und was in bezug auf die eigene Person gilt, gilt ebenso in bezug auf Andere. Wenn alle Wissenschaft auf Sokrates zurückgeht, so liegt das daran, dass er zuerst den Mut hatte, sich zum Nicht-Wissen zu bekennen, wo er nicht ganz genau verstand: aus dieser Entscheidung heraus erwuchs auf die Dauer der ganze reiche Organismus der westlichen Begriffe.