Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Geisteskindschaft
Geburt, Tod und Wiedergeburt
Im Zusammenhang dieses Kapitels bleibt uns noch eine Frage zu beantworten übrig: warum der Einzige denn überhaupt des Anderen bedarf? Wir finden die Antwort am schnellsten, indem wir bei einer seltsamen Inkonsequenz des Buddha anknüpfen. Dieser war, erkenntniskritisch beurteilt, der erste Pluralist; jeder Einzelne stand ihm in der Sphäre des Daseins letztlich allein. Und alles sollte er aus sich selbst heraus erreichen. Aber andererseits sollte ihm die Erkenntnis des richtigen Wegs nur kommen können, sofern er sie vom Buddha empfing.
Wir stehen hier vor dem äußersten Beispiel des Korrespondenzgesetzes und zugleich an der äußersten Grenze möglichen Geistverstehens überhaupt. Wir fanden seinerzeit, dass der historische Geistesprozess nicht anders abläuft als der organische, nämlich in Funktion des Zusammenwirkens des männlichen und geistigen Prinzips. Aber hier ist der Geist, als Logos spermatikós, das männliche Prinzip, und sein weiblicher Gegenpol, die aufnehmende, verarbeitende, austragende Seele, gehört nicht der gleichen Daseinsebene an. Aller historische Prozess, obschon vom Metaphysischen her immer erneut befruchtet und beschleunigt, ist letztlich ein empirisches Phänomen. Dies gilt von aller Geistesgeschichte, auch der des religiösen Geists. Denn alle Gestaltungen sind eben durchaus irdisch. Die exakte Erkenntnis der Wirklichkeit der Geisteskindschaft führt uns nun zur Anerkennung dessen, dass auch das Metaphysische, dessen Wesensdimension, vom Menschen her beurteilt, die Einzigkeit ist, seinerseits einem weiteren Zusammenhang organisch angehören muss. Und dies gilt wirklich von der Ebene des Geistes. Wohl ist es, formell beurteilt, die Seele, die sich befruchten lässt, denn alles Metaphysische findet seinen konkreten Ausdruck hienieden im Psychophysischen. Allein der Sinn
der Befruchtungssehnsucht liegt jenseits dieses Empirischen. Es ist gerade das letzte Metaphysische in mir, das sich, um gleich das äußerste Beispiel zu nennen, nach seinem Gotte sehnt. Wie ist das zu verstehen? — Ganz zu verstehen ist es nicht mehr; denn dieser Zusammenhang liegt gänzlich außerhalb der Ich-Sphäre, in der alle nur möglichen Erklärungen ihr Bezugszentrum haben. Doch zu dem, was überhaupt verstehbar ist, besitzen wir in den Schlussbetrachtungen von Tod und Ewigkeit den Schlüssel.
Von der Natur her beurteilt, ist seine Einzigkeit des Menschen letzte Instanz. Jenseits dieser Einzigkeit indessen gehört er einem desto größeren Ganzen an; jenseits der letzten Einsamkeit beginnt die wahre Einheit. Dort beginnt das, was das Christentum Gotteskindschaft heißt, was die indische Weisheit als Identität von Brahman und Atman deutet. Das heißt: als Einziger gehört der Mensch einem transsubjektiven Lebenszusammenhange an, der wiederum die zwei Dimensionen der Melodie und Harmonie hat, wo wiederum jedes Sonder-Sein von einem Höherem her erst seinen vollen Sinn erhält. Hier erscheint der persönliche Geist wiederum als Funktion von anderen Geistern. Hier verläuft das Geschehen wiederum in Funktion des Zusammenwirkens von Männlichem und Weiblichem. Hier geht das kosmische Werden und Vergehen, wie die Melodie durch Töne, durch Einzige hindurch. Hier herrscht wiederum Geburt, Tod und Wiedergeburt, nur in einem neuen Sinn. So ist es zu verstehen, was so viele Seher als gewiss verkündet haben, dass der Einzige, ohne zu sein aufzuhören, in Gott aufgehen mag. Die irdische Korrespondenz dieses überirdischen Phänomens ist das der Geisteskindschaft.