Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Das Glücksproblem
Verzicht auf Glück
Es ist, in der Tat, eins der seltsamsten Gesetze dieses Lebens, dass die Dinge dem nachlaufen, der sie nicht mehr sucht, und vor dem fliehen, der sich ihnen aufdrängt. Wirklich selig auf Erden war immer nur der Entselbstete; nicht zwar insofern er persönlich wunschlos war, sondern insofern er alsdann in höherem Grade begnadet wurde, als er je zu wünschen gewagt hätte. Nächst ihm kennt die höchsten Wonnen der Schaffende, der die Frage des Glücks nicht stellt und die Tragödie bejaht. Doch auch der mögliche Glückszustand geringsten Lebens baut sich auf dem Verzichte auf: hier dem Verzicht auf Freiheit, Selbstbestimmung oder was sonst. Es gibt überall nur einen Weg, das Positive im Leben zum absoluten Übergewicht zu bringen: den Verzicht auf Glück.
Doch bevor wir nun das Positive bestimmen, das sich aus dem Verzicht auf Glück ergibt, müssen wir einem neuen möglichen Missverständnis vorbeugen. Wir sollen um aller Götter willen nicht etwa in dem Sinn dem Glück entsagen, dass wir kein Glück wollen. Es gibt nur persönliches Leben, und jedes keine persönlichen Ziele verfolgendes Leben ist deshalb grundsätzlich verfehlt. Insofern gibt es z. B. kein menschenunwürdigeres Lebensziel als das reiner Pflichterfüllung. Metaphysisch wertvoll (die politisch, utilitarische Nützlichkeit steht natürlich gar nicht in Frage) ist Pflichtgefühl nur dann, wo es als Ausdruck letzter Selbstbestimmung in Erscheinung tritt. Sonst ist Pflichttreue als letzte Erlebensinstanz nie mehr als ein Beweis menschenunwürdigen Maschinentums. Insofern misstraue ich persönlich jedem, bei dessen Handeln ich keine persönlichen Beweggründe feststellen kann: entweder er ist ein blutleeres Fragment oder aber unehrlich: dem vielgeschmähten englischen cant, der aufs Moralische geht, steht der deutsche, auf Ideale bezügliche, gleichwertig gegenüber. In Deutschland behauptet gerade der skrupelloseste Geschäftsmann am lautesten, dass es ihm nur um die Sache zu tun sei; er muss es, sofern er seinen Ruf nicht schädigen will. Wo der bekenntnismäßige Idealist nun weder blutleer noch unehrlich ist, dort fehlt es ihm zum mindesten an Persönlichkeit. Auch auf diesen Zusammenhang bezieht sich das Christuswort, dass dem allein gegeben wird, der da hat
. Wer für sich nichts will, es sei denn, er sei bereits entworden
im Sinne Eckharts, der kann auch von sich nichts geben, denn der eigentliche Brennpunkt seines Wesens bleibt außer Spiel. Und auch beim Entwerden
handelt es sich nie um einen Verlust an Leben, sondern um eine Beziehung seiner Ganzheit auf einen tieferen Mittelpunkt.
Der Heilige strebt mit persönlicher Inbrunst an, was ihn im irdischen Verstand verdirbt, und steht insofern dem naiven Egoisten viel näher als dem selbstlosen Pflichtmenschen. — Dies sei ein für allemal bedacht. Ebensowenig wie die Sittlichkeitswerte dürfen die der persönlichen Befriedigung aus dem Gesamtleben herausgegriffen werden. Wohl trifft es zu, dass man nur Gott oder dem Mammon dienen kann
, insofern das schlechthin Äußerliche, als Ziel verfolgt, vom Innerlichen abführt. Doch auch die Pflicht, primitiv verstanden, gehört zum Mammon. Um bei der christlichen Ausdrucksweise zu bleiben: allerdings soll man Gott allein dienen
, aber ein richtig verstandener Gottesdienst ist zugleich Selbstdienst und Dienst für die Welt. Der Fehler liegt im Zerreißen des Lebenszusammenhangs. — Stellen wir die Frage einmal auf die übliche falsche Art, dann soll der Mensch also allerdings nach Glück streben; diese Entscheidung bewahrt ihn zum mindesten vor der Hauptklippe auf der Fahrt zu höherem Menschentum: der Entpersönlichung. Aber das zutiefst gemeinte Glück ist eben ein ganz anderes, als was sich die Meisten vorstellen. Auf Grund des bisher Ausgeführten können wir das wahre Verhältnis nunmehr in einem Satz zusammenfassen. Nur was persönliches Wollen erfüllt, beglückt. Da aber jede Befriedigung andererseits als Endzustand das Glück wieder aufhebt und nichts Bestimmtes je gut ausgeht, so kann nur das Wollen, das sich in der Erfüllung steigert, eine Befriedigung schaffen, die jenseits der Polarität von Glück und Leid besteht.
Hiermit wäre denn zunächst das mögliche Bestehen verschiedener Stockwerke gleichsam nicht missverständlichen Glücksstrebens nachgewiesen. Als Sinnen- oder Herzwesen strebt der Mensch nach Befriedigung im Liebesglück, und dies mit Recht; wehe dem, der solches bei sich und Anderen vereitelt, denn Vereitelung verbittert und Verbitterung verbildet und verkuppelt. Doch damit Liebesglück dauere, muss es zum Gefäße tieferen Strebens werden. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von der Berufstätigkeit, welche den, der sie ausübt, sowohl mechanisch machen als ohne Unterlass menschlich höher entwickeln kann. Gleiches gilt auf schlechthin allen Gebieten. Wie der Zyklus Werden und Vergehen
lehrte, lebt jeder auf verschiedenen Daseinsebenen zugleich, und immer ist es möglich, die oberflächlichen zum Ausdrucksmittel tieferer zu machen und damit zu erlösen. Wer den Sinn des Lebens also richtig versteht, kann es zuletzt dahin bringen, dass alles Streben, das zuerst auf Endliches ausging, zum Körper des Vollendungswillens wird, der allein dauernde Glücksmöglichkeit im Sinne absoluten Glückes birgt. Denn der Mensch ist ein wesentlich werdendes Wesen, dessen Grundzug der Wille zur Steigerung ist. Was ihn nicht weiterbringt oder gar hinabzieht, beglückt ihn nie auf lange hinaus; was ihn nur satt macht, löst bald Ekel aus. Allerdings aber darf von der endlichen Befriedigung nie abgesehen werden, denn alle unmittelbaren Triebe zielen auf Endliches, und ohne sie wären wir nicht. So können und müssen wir denn unsere erste Bestimmung, dass nur das Wollen, das sich in der Erfüllung steigert, eine Befriedigung schafft, die jenseits der Polarität von Glück und Leid besteht, durch die folgende weitere ergänzen: nur, was im Geist des Vollendungswillens betrieben, zugleich als persönliches Glück jeweils erstrebt wird, bringt weiter und gewährt allein zugleich nieversiegende Befriedigung.
Weil dem so ist, deshalb ist Vervollkommnungsstreben schlechthin allgemein, wo das Leben noch im Aufsteigen begriffen ist. Trägt jenes materialistischen Charakter, so bleibt das Wesentliche am Wollenden doch sein Trieb, reichere Betätigungsmöglichkeiten zu erringen. So ist dem Genie des Erwerbs das Geldverdienen wichtiger als das Geld — und man sage, was man wolle: diese Art Yoga, so einseitig entwickelnd sie sei, fördert dennoch mehr als mechanische Pflichtleistung. Ebenso wollen Liebende instinktiv aneinander wachsen. Wie sehr nun dies dem Sinn des Daseins entspricht, beweist die Tatsache, dass sogar die Eitelkeit von Natur aus im Dienst des Mehr-Werden-Wollens steht. Ohne dass einer in den Spiegel sähe, erkennte er nie sich selbst, denn das Bewusstsein blickt nur nach auswärts, und ohne dass er schön erscheinen wollte, würde er nie schön. So führt uns denn gerade der Verzicht auf das banale Glücksideal zu einer Heiligung alles, auch des naturhaftesten Glücksstrebens.