Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Das Glücksproblem

Wesentliche Freudigkeit

Das banale Glücksideal haben unsere Betrachtungen aber doch erledigt. Und in der Tat halte ich direkt für menschenunwürdig, in Zukunft noch an den alten Illusionen festzuhalten. Ja ich halte die Führer, die es besser wissen können und sie ex officio weiternähren, für richtige Verbrecher, denn es gibt heute keinen überdurchschnittlich Begabten, der es nicht besser wissen könnte. Hier liegt eine ungeheure Gefahr für den Wert von Kirche und Staat; ich nenne auch letzteren, denn er wird immer ausschließlicher zu einer Wohlfahrtsanstalt werden und damit noch mehr, als bisher geschah, von dem übernehmen, was einstmals alleiniges Gebiet der Kirche war. In diesem Zusammenhang bedeutet Dostojewskis Legende von Christus und dem Großinquisitor für beide, Staat sowohl als Kirche, ein furchtbar ernstzunehmendes Menetekel. Zweifelsohne ist plattmaterielles Wohlbefinden und folglich auch darauf gerichtetes Wohltun satanischen Geists … Der heutige Mensch ist zu bewusst geworden, um ohne Verlogenheit noch geistig Falsches zu glauben. Er ist ferner zu individualisiert, um seinen unvermeidlichen Tod, der alles Glück ad absurdum führt, nicht letztlich ernst zu nehmen. Heute ist eine Fundierung von Glück nur noch auf der höheren Ebene akzeptierter Tragik möglich.

Diesen Gedankengang brauche ich nicht weiter auszuführen. Das ist in früheren Kapiteln von den verschiedensten Gesichtspunkten her und auf die verschiedensten Teilgebiete hin geschehen. Weitere Ausgestaltungen werden die folgenden bringen. Hier nur noch eins. Wir glauben alle, ob wir es wahr haben oder nicht, in unserer tiefsten Seele an ein überirdisches, unsägliches, absolutes Glück, das einen Frieden bedingt, der alles Verstehen übersteigt. Ein Glück, dem kein Leid das Mindeste anhaben kann. Solches Glück bedeutet das eigentliche Christus-Bild, das Christus-Leiden schafft nur den Rahmen dazu. Eine Heilsbotschaft bedeutet das Christentum nur insofern, als dank Christus der Tod schon jetzt, in diesem Leben, überwunden sei. Und es hat Menschen gegeben, die solches Glück, solchen Frieden zu besitzen schienen. Was ist es damit? In der Tat fordern Seligkeit in diesem Sinn alle Menschen als Attribut des Absoluten. Nur Seligkeit ist schlechthin positiv. Nur Seligkeit ist dem Menschen letztes Ziel. Und jeder hält es instinktiv auch für erreichbar: nie noch sah der tief denkende oder fühlende Mensch in der Seligkeit ein ihn beunruhigendes Problem; die nicht-Seligkeit allein war es ihm von je; in jenem höchsten Glück, das nur einer unter Milliarden je erreicht, sah also der Mensch von je das, was ihm letztlich und wesentlich gebührt. Der eine, einzige ganz Große, welcher anders dachte, der Buddha, sah eben im Verlöschen Seligkeit, und schwerlich bedeutet es Zufall, dass der gesamte Buddhismus das Nirvana, wie immer er es abstrakt bestimmte, als Positives verstand … In der Tat ist Freudigkeit der höchste innere Zustand. Es gibt eine wesentliche Freudigkeit jenseits alles nur möglichen Leids. Der also Freudige ist dem Nicht-Freudigen absolut überlegen, denn er ist innerlich weiter als er. So ist es allerdings. Doch diesen Zustand erreicht wiederum nur der, der ursprünglich und unterwegs den Mut zum vollen Glücksverzichte aufbrachte. Diesseits akzeptierter Tragik gibt es kein wahres Glück. Der nicht ganz Primitive, der es da zu finden glaubt, ist ein Zurückgebliebener. Er verhält sich zum Pionier der Zukunft wie der Brachiopode des Silurs, der noch heute im Stillen Ozean sein geruhsames Dasein fristet, zum Menschen nach dem Sündenfall.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Das Glücksproblem
© 1998- Schule des Rades
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