Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Das ethische Problem

Gut und Böse

Was den Menschen zum Menschen macht, im Unterschied von allen anderen Wesen und Erscheinungen, die wir kennen, ist das, was man seit Griechentagen Ethos heißt. Dessen Begriff impliziert, in seinem ursprünglichen Sinn, keine bestimmte Ethik und erst recht keine bestimmte Moral: er bedeutet, dynamisch verstanden, mögliche Formgebung, statisch Haltung. Beim so verstandenen Ethos handelt es sich nun in der Tat um das Grundprinzip des Menschen. Alles Leben ist Gestaltung und Gestalt, aber das formende Prinzip des Menschen liegt, auf geistige-seelischer Ebene, in dem der Selbstbestimmung fähigen Subjekt, und nur insofern solche aktuell erfolgt, entrollt sich Menschenleben aus menschlichen Voraussetzungen heraus. Hier liegt der wahre Kern der Unterscheidung von Klages zwischen Leben (als Vitalität) und Geist1. Der Einbruch des allerdings dem animalischen in einigen Hinsichten feindlichen Geist-Prinzipes macht den Menschen. Deshalb ist es grundverkehrt, im Pathos ein polar gleichwertiges oder gar höheres Prinzip zu sehen. Selbstverständlich ist der Mensch, vom Kosmos her geurteilt, kein Letztentscheidendes; selbstverständlich unterliegt er, wie alle Einzelwesen, dem, was man Schicksal oder kosmische Fügung heißen mag. Aber das eben macht den Menschen, dass für sein bewusstes Handeln die Selbstbestimmung letzte Instanz ist und zu sein hat. Aus diesen wenigen Sätzen leuchtet bereits ein, warum das ethische Problem, seitdem die Frage denkend gestellt ward, allen anderen voranstehen musste: ob wir erkennen oder handeln, leiden, forschen, wünschen, schaffen — wird der Tatbestand überhaupt als Problem oder Forderung erlebt, so stellt sich an erster Stelle das Problem und die Forderung der Selbstbestimmung. Ohne vorausgesetztes Ethos keine Kunst und keine Religion. Auch das menschliche Pathos ruht, als Erlebnis, auf ethischer Grundlage. Denn Schicksal, Vorsehung und Gnade werden ursprünglich als Gegensätze zur zunächst gegebenen und insofern selbstverständlichen Freiheit erlebt. Ohne vorausgesetztes Ethos gibt es auch kein Wissen. Es muss der Wille zur Erkenntnis da sein, ehe sich die Frage des Nichtwissens stellt. So setzt denn Problematik überhaupt das Primat des Ethischen voraus. Der tiefste Sinn des Mythos vom Sündenfalle liegt darin, dass sich der erste Mensch bewusst zur Selbstbestimmung entschied. Damit ist zugleich gesagt, dass das ethische Problem an seiner Wurzel eins ist mit dem Freiheitsproblem. In jeder Entscheidung äußert sich Ethos. Und es gibt keine im speziellen Sinne ethische Entscheidung, die nicht zunächst Entscheidung überhaupt wäre.

Damit hätten wir die Grundlage des ethischen Problems bestimmt. Zugleich aber auch seine Grenzen: es gilt, soweit wir als Wissende, nicht Glaubende, vom gegenständlichen Begriff des Ethos ausgehen und bei diesem bleiben, nur für den Menschen. Denn es gilt sinnvollerweise nur für das mögliche Bereich des spezifisch menschlichen Freiheitsbegriffs. Pflanzen und Tiere sind nicht selbstbestimmt. Was aber übermenschliche Wesen betrifft, so hat solche kein Volk und keine Zeit an menschlich-moralische Normen gebunden vorgestellt. So darf man den Menschen ohne Vorurteil das spezifisch-ethische Tier heißen. Wie sehr diese zunächst befremdlich klingende Bestimmung zutrifft, erhellt daraus, dass es sein Ethisches, auf seine Natur-Stellung hin beurteilt, ohne jeden Rückbezug auf absolute Werte zu bestimmen gelingt. Daher die Antinomie, dass verschiedenenorts und zu verschiedener Zeit die verschiedensten Spezifizierungen von Gut und Böse gegolten haben, sosehr, dass tiefe Menschen daran zweifeln konnten, ob es überhaupt absolut Gutes und absolut Böses gibt; dass es aber andererseits keine Menschenart gibt noch jemals gab, die nicht gemäß den Maßstäben von Gut und Böse gewertet hätte. Ihr ursprünglicher Sinn deckt sich einfach mit dem von Ja und Nein. Irgendein Nein ist die notwendige Grenze jedes Ja. Wo Form durch Freiheit zustande kommt, muss es deshalb, als Grenze des Bejahten und insofern Guten, ein Verneintes und insofern Böses geben. Hier handelt es sich eben, vom Standpunkt des empirischen Erlebens, primär nicht um metaphysische Prinzipien, sondern um Formgesetze. Ebendeshalb konnte noch Kant seine Ethik eine Metaphysik der Sitten heißen Ebendeswegen sind die Völker sittlich nahezu ihrer Naturnähe proportional. Wohl setzt Erkenntnis des letzten Sinns von Gut und Böse metaphysisches Bewusstsein voraus, das nur Menschen hoher Stufe besitzen. Andererseits aber muss sich der Mensch besonders scharf als Mensch differenzieren, wenn er sich der ihm nahen Natur gegenüber behaupten will. Deshalb bedeutet Haltung überhaupt dem frühen Menschen am meisten. Dies ist der Sinn dessen, warum sich das Heldenethos überall als frühestes erweist. Unter Kulturvölkern leidet das ursprüngliche Ethos zumeist unter der Vorherrschaft bestimmter Differentisationen und dem Konflikt zwischen dem geistigen Ethos, das sich zunächst als gefühlter Imperativ offenbart, und dem sonstigen Seelenzustand. Aber alle Menschen ohne Ausnahme, welcher Kulturstufe immer, verurteilen doch Haltungsmangel instinktiv. Einem Menschen ohne Haltung fehlt eben das spezifisch Menschliche.

Doch versagt jede ethische Betrachtung im bisherigen Sinn, noch einmal, gegenüber dem, was, so oder anders, jenseits dieses liegt. Sobald menschliche Normen als gültig nicht vorausgesetzt werden können und metaphysische nicht anerkannt werden, mündet deshalb ethische Betrachtung in ästhetische ein. Und zwar mit vollem Recht. Ethische Fragestellung ist möglich allein von der Selbstbestimmung her, welcher Begriff seinen Seinsgrund im menschlichen Bewusstsein hat. Formgebung überhaupt ist unter allen Umständen, gleichviel, was sie sonst sei, ein ästhetisches Problem. Deshalb ist jede kosmozentrische Ethik, genau besehen, eine besondere Art Ästhetik. Nur als Künstler erscheint der Schöpfer-Gott, der soviel Leid schuf und dauernd weiter zulässt, vor Menschenaugen gerechtfertigt. So wendet die Menschheit denn auch instinktiv schon gegenüber Ausnahmemenschen nicht ethische, sondern, in Coudenhoves Sprache, hyperethische Normen2 an, deren letzte Instanzen Kraft und Schönheit sind. Sobald ein Mensch als Natur über Menschennormalmaß hinausragt, sei er im übrigen Eroberer oder Weiser, erscheint das Feld ethischer Beurteilung im üblichen Sinn verlassen. Dann bleiben zunächst nur die Form-Forderungen empirisch haltbar, die auch für Sterne und Götter gelten können.

1 Ich verweise hier ein für allemal auf Klages neueste Bücher: seine Grundlagen der Charakterkunde und Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches (Leipzig, I. B. Barth).
2 Graf Richard Coudenhove-Kalergis Buch Ethik und Hyperethik (Leipzig 1921, Der Neue Geist Verlag) empfehle ich als eine der wenigen lesenswerten Schriften über Ethik, die mir bekannt sind. Coudenhoves rein japanische Mentalität ist freilich positivistisch; für das Metaphysische hat er kein Organ. Doch was diesseits dieses liegt, sieht er klarer als irgendein mir bekannter lebender Europäer.
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Das ethische Problem
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