Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Das ethische Problem
Ausgleichende Gerechtigkeit
Hiermit befänden wir uns denn auf dem Grenzgebiet, wo Naturordnung und Wertforderung einander treffen und überschneiden. Dass sie dies wieder und wieder tun, so wenig es gelingt, die beiden in dauernde Übereinstimmung zu bringen, darüber besteht kein Zweifel. Die nächstliegende Erklärung des Tatbestandes finden wir am schnellsten, wenn wir an einigen Gedankengängen der Neuentstehenden Welt anknüpfen. Dort stellte es sich heraus, dass die Geschichte, so irrational ihre meisten Wurzeln seien, in ihrem Verlaufe dennoch logisch erscheint, weil nur das Wahre und Richtige auf die Dauer lebensfähig ist. Denn auf empirischem Gebiet entspricht das Wahre dem Leben und das Falsche dem Tod. Ähnlich steht es zunächst mit der Nützlichkeit des Guten. Innerhalb jeder geschlossenen und durchorganisierten Gesellschaft ist dies zu beweisen. Keine kann bestehen, die sich nicht irgendeiner moralischen Ordnung unterwirft, und es gibt deren nur wenige von Bestandfähigkeit. Aber wenn schon auf historischem Gebiet nur Richtiges überhaupt
von selbst bestehen bleibt, nie jedoch das Bestmögliche, so liegen die Dinge vom Standpunkt der Moralisten noch schlimmer: es liegt überhaupt nicht im Sinn des natürlichen Weltverlaufs, dass das moralisch Gute siege. Wohl bewährt es sich in jeder geschlossenen Gemeinschaft, und dies zwar desto mehr, je durchorganisierter sie ist. Eben deshalb wird auch der Handels- und politische Verkehr moralischer proportional der Geschlossenheit des gegebenen Systems; ist in primitiven Zuständen dem Fremden gegenüber alles erlaubt, gilt er an sich schon als Feind, so müsste in einer faktisch geeinten Menschheit moralisches Verhalten im selben Sinn als einzig heilbringend erscheinen, wie es in jeder engen Gemeinschaft ist. Aber alle wirklich bestehenden Gemeinschaften waren bisher eng. Deshalb gelang es noch nie, die Politik zu moralisieren. Demzufolge haben sich im Großen allein hyperethische Werte nicht praktisch ad absurdum geführt; es sind dies die gleichen, deren Maßstab auch auf nicht-Menschliches anwendbar erscheint, also vor allem die der Kraft und Schönheit.
So hat denn das Endurteil der Geschichte sowohl als der Natur bisher immer zugunsten — nie zwar des Unmoralischen, wohl aber des einerseits Ethischen, andererseits Amoralischen gelautet. Vom Naturstandpunkt bedeutet eben Moralität nie mehr als Bedingung und Form zugleich der Kohäsion. Beschleunigung tritt nie anders ein als dank dem Eingreifen eines irgendwie Bösen
. Denn alles, was bestehende Ordnung stört, ist insofern böse, und darauf allein bezieht sich des Bösen primärempirischer Begriff. Dieses kann, vom Naturstandpunkt, gar nicht als absolut böse erscheinen. Von ihr aus beurteilt ist Töten nicht schlimmer als Sterben, und Sterben gehört notwendig hinein in ihren Lauf. Nur wer sein Leben höher einschätzt als das der Anderen, hat sich je behauptet, und Selbstbehauptung durch Sieg ist ein natürlich Höheres als Selbstbehauptung durch Flucht. Deswegen galt zu allen lebensbejahenden, erdzugewandten Zeiten das Kriegerethos als höchstes. Nur dieses konnte sich, in der Tat, für die Dauer als menschengemäß bewähren. Jedes Volk, das sich nicht wehrte, ward versklavt. Jedes Volk ohne Eroberungstrieb blieb machtlos. Und beim Willen zur Macht handelt es sich um einen menschlichen Urtrieb, der unbedingt positiv zu bewerten ist, da er die Naturgrundlage darstellt aller Souveränität.
Im gleichen Sinne nun, wie der Eroberer, muss jeder Initiator amoralisch sein. Insofern er bestehendes Gleichgewicht zerstört, handelt er böse. Menschlich-moralisch ist der erscheinende Kosmos ganz gewiss nicht qualifiziert. Moral ist, von ihm aus betrachtet, nichts anderes als private Menschenangelegenheit. Wohl bedeutet Gerechtigkeit in einem bestimmten Sinne kosmische Norm; insofern nämlich, als sie auf besondere Art das allgemeingültige Naturgesetz des Ausgleichs ausdrückt. Aber diese ausgleichende Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit in höherem Verstand. Nur verrücktes Gleichgewicht überhaupt stellt sie wieder her. Aus dem Wort wiederherstellen
allein nun ergibt sich schon, dass es nicht in ihr liegt, aus Bestehendem mehr zu machen, als es vorher war. Deshalb verfährt sie häufiger im Sinn des menschlichen Neids, der das Erhabene so gern in den Staub gezogen sieht, als in dem vergoltener Missetat oder belohnter Tugend. Unter allen Umständen gibt sie dem Stärkeren recht. Brachte sie Tyrannen häufig, so oder anders, zu Fall, so lag dies nie daran, dass das Gute
notwendig siege, sondern dass die Masse der Kleinen stärker ist als der gewaltigste Große. Vielleicht gibt es eine wirklich ausgleichende Gerechtigkeit im Sinn der indischen Karmalehre. Aber auf die hin ist keine gerechte Weltordnung vom Menschenstandpunkt aus zu behaupten: denn da findet der Ausgleich von Leben zu Leben, mit jahrtausendelangen Zwischenräumen, statt1.
1 | Über das genaue Verhältnis der moralisch verstandenen Gerechtigkeit zum Gesetz des Ausgleichs bitte ich, da ich mich nicht wiederholen mag, meine Studie Gerechtigkeit und Billigkeit im 11. Heft meines Wegs zur Vollendung nachzulesen. |
---|