Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Das ethische Problem

Die Idee des Guten

Nun sind wir soweit, das ethische Problem vollkommen richtig zu stellen. Insofern der Mensch ein Sonderausdruck des allgemeinen Lebens ist, kennzeichnet ihn, dass das formende Prinzip bei ihm durch das Bewusstsein hindurch wirkt, in Gestalt dessen, was wir im Höchstfall Freiheit heißen. Insofern macht sein Ethos und nichts anderes den Menschen im Unterschied vom Tier, sind bewusst-gewollte Formgebung und Haltung Grundbestimmungen des Menschentums überhaupt. Doch das letztentscheidende formgebende Prinzip stammt aus dem Jenseits der Natur: nicht nur Haltung und Formgebung überhaupt verlangt es, sondern Selbstverwirklichung mittels dieser Naturfunktionen. Diese nun gelingt erfahrungsgemäß nur durch erstrebte Realisierung als solcher anerkannter absoluter Werte. Und deren Generalexponent ist, wie Plato zuerst und überdies wohl als einziger bisher ganz klar erkannte, die Idee des Guten, nicht die des Schönen und Wahren. Denn nur auf Grund ethischer Zielsetzung, die primäres Ethos voraussetzt, kann sich die bloße Forderung der Verwirklichung ästhetischer und logischer Werte stellen. Auch hier gilt das allgemein-kosmische Korrespondenzgesetz. Wie auf der Naturebene sein Ethos und nichts anderes den Menschen macht, denn dieser steht und fällt als Mensch mit seiner Selbstbestimmung, so führt Ethos allein von jener ins Reich der Werte hinüber. Welcher Umstand allein zur Erklärung dessen genügt, warum allen Menschen aller Zeiten, und Kindern noch eindeutiger als Erwachsenen, da sie ihre ganze Welt erst zu erschaffen haben, das ethische Problem als das primäre und letztentscheidende galt und gilt. Nicht die Ethik ist auf anderes zu begründen, sondern die Wirklichkeit dessen, was theoretische Ethik mühsam zu verstehen sucht, bildet die faktische Grundlage alles Geistesstrebens.

Jetzt können wir darangehen, die Begriffe von Gut und Böse ihres Relativitätscharakters endgültig zu entkleiden, den wir ihnen erstinstanzlich zuerkennen mussten. Greifen wir dazu noch einmal auf die Gedankengänge des dritten Kapitels der Neuentstehenden Welt zurück. Dort erwies sich, dass zwar nur Richtiges auf die Dauer besteht, weil das Wahre letztlich dem Leben entspricht und das Falsche dem Tod; welches Richtige sich indessen realisiere, hänge ganz und gar von den freien Entscheidungen und den aus diesen hervorgehenden besonderen Sinngebungen des Menschen ab. Höchst- und Geringstwertiges kann sich, von Fall zu Fall, als einzig richtig erweisen. Genau so sind nur gestaltete, also ein Ethos verkörpernde Menschenzustände überhaupt bestandsfähig. Doch eine Gestaltung kann sowohl im Sinn des Guten wie des Bösen erfolgt sein.

Zweifelsohne nun ist im Sinn des Bösen Gestaltetes auf der Natur-Ebene nicht minder bestandfähig, wie sein positives Korrelat, wenn es sonst nur die Qualitäten verkörpert, die Hyperethik verlangt, wie Kraft und Mut; die bloße Tatsache existenzfähiger Raubtiere und Raubmenschen und -völker beweist es. Ja, die Verhältnisse liegen, für das Böse, noch weit günstiger. Der Naturprozess an sich hat keinerlei Aufstiegstendenz. Er bewegt sich, bildlich gesprochen, auf gleicher Ebene fort, solange die bewegende Kraft sich gleichbleibt; nimmt diese ab, so wird er aus eigenem Gefälle zum Abstieg. Dieses Gefälle ist nun offenbar das bestdenkbare Verkörperungsmittel für den Geist des Bösen. Gutes entsteht immer nur durch aktuell-spontanes Gutes-Tun, genau so wie es Leben nur in Funktion nie aussetzenden Belebens gibt. Deshalb ist die Trägheit — das Prinzip aller Routine — an sich schon des Guten Feind. Weiter aber entspricht dem Bösen auf der Natur-Ebene das Prinzip des Todes. Da nun alles Gewordene vergeht, so verschaffen Trägheit und Sterbenstendenz zusammen schon allein dem bösen Prinzip von Hause aus die materielle Übermacht.

Doch nicht genug dessen: alle Initiative tritt auf der Natur-Ebene, so oder anders, als böse in die Erscheinung. Jedes Nein ist als zerstörerisch böse, jede Herauslösung aus bestehendem Zusammenhang, jede Abschnürung vom Ganzen. Der Initiator nun muss sich aus dem Bestehenden herauslösen, muss zu ihm nein sagen; unter allen Umständen sprengt er bestehendes Gleichgewicht. Offenbar nun erreicht er sehr viel mehr für sich, wenn er diesen bösen Mitteln überdies bösen Sinn gibt, d. h. Selbstsucht auf Kosten aller übrigen entscheiden lässt. Denn ein guter Sinn ist nur mittels der Selbstlosigkeit der Erscheinung einzubilden, die Verzicht auf Vorteile verlangt. Unter diesen Umständen wäre es unmittelbar erstaunlich, wenn der Teufel nicht der Fürst dieser Welt wäre. Dieser ungeheuren natürlichen Vorzugsstellung des Bösen gegenüber hat sich Gutes bisher nur ausnahmsweise behauptet. Es vermochte dies desto schwerer, als es nur siegen kann wo es sich seinerseits des Bösen als Mittel bedient, und dies ihm widerstrebt. Deshalb fand das Ideal des absolut guten Menschen seine bisher einzige unzweideutige sowohl als überzeugende Verkörperung im Heiligen, der allem Weltlichen entsagt. Jede Forderung, nur Gutes zu tun, versetzt eben, wenn erfüllt, die Welt in Anarchie, welche ihrerseits unvermeidlich im Terror ausläuft. Dieses nun hat seinen letzten, jede vermeintliche Vorzugsstellung des Guten endgültig erledigenden Grund darin, dass, wie Klages sagt, der sittliche Mensch und der böse Mensch zwei auseinanderstrebende Äste am selben Baum, am Baum des Willens, sind; welche Bestimmung die geltende theoretische Ethik bestätige, insofern ihr Kernproblem die Vermeidung des — Bösen ist1.

In seiner Charakterkunde zeigt Klages weiter mit großer Klarheit, dass persönliche Icherweiterungstriebfedern zwangsläufig Bösartigkeit, Hass, Grausamkeit, Zerstörungswillen und Satanismus ergeben, sobald sie ohne geistige Bindungen wirksam sind. In der Tat muss, wer seine Form, also sein Ja, auf Kosten Anderer erweitern will, zu diesen entsprechend nein sagen. Geistige Bindungen nun eignen jenen wesentlich Expansionsbedürftigen, die allen äußeren Fortschritt herbeiführen, nur ausnahmsweise. So ist denn das ethische Problem, moralisch verstanden, im Sinn äußerlich-irdischer Verwirklichbarkeit, unlösbar. Und unlösbar ist es auch im Reich der Seele. Wer das Gute anstrebt, will besser werden und besser machen, unabhängig vom äußeren Erfolg. In die Sprache der Philosophie der Sinneserfassung übersetzt, bedeutet dies, wieder einmal, nur auf besonderer Ebene, dass das an sich unveränderliche Alphabet zum Ausdrucksmittel neuen Sinns gemacht wird, der in jenem ebensowenig enthalten ist und zu sein braucht, wie die Bedeutung eines Gedankens in den ihn materialisierenden Lettern. Aber man kann gar keinen guten Sinn geben, ohne bösen Sinn mitzugeben.

Ein sündloses Leben ist ein Ding der Unmöglichkeit. Hier kann ich mich ganz kurz fassen, denn das Wesentliche über diesen Punkt wurde in den Kapiteln Geschichte als Tragödie und Tod und Ewigkeit bereits gesagt. Jedes Leben dauert zwangsläufig auf Kosten anderen Lebens. Jedes Ja hat zur Formgrenze ein korrelatives Nein, und jedes Nein bedeutet Tod und Tötung. So schafft jede Entscheidung, wie immer sie ausfalle, in irgendeiner Hinsicht Schuld. Wer dem Übel nicht widerstrebt, bestärkt es zum Mindesten in der Person des Übeltäters. Es bedeutet feige Selbsttäuschung, wenn der normale Dulder hier metaphysische Kräfte für sich in Anspruch nimmt, die sich im Nicht-Widerstehen desto positiver auswirkten. Dies geschieht nur bei dem, der auf einer Ebene nicht widersteht, weil ihm auf anderen wichtigere positive Kräfte zu Gebote stehen. Wer nun dem Bösen wehrt, der kann es nur mittels böser Mittel tun. Es ist moralisch Schlimmstes beweisende Sophistik, in Freiheitsberaubung und Tötung unter Umständen kein Böses zu sehen. Töten ist beim Richter und Henker an sich genau so böse wie beim Mörder. Insofern sind Tolstoianer, Pazifisten und Feinde der Todesstrafe ihren Gegnern, die anderes behaupten, gegenüber absolut im Recht. Ja, schon Macht im Sinn des Anspruchs auf gewaltmäßige Behauptung ist an sich böse.

Was uns denn von einer neuen Seite her zur Einsicht führt, um wieviel leichter der Geist des Bösen es hat, sich auf Erden durchzusetzen, als der Geist des Guten. Dies leuchtet vollends ein, wenn wir nunmehr den gesamten Tatbestand von den Voraussetzungen der Philosophie der Sinneserfassung her auf einmal betrachten. Überall gelingt Selbstverwirklichung allein in Funktion der Kongruenz von Ausdruck und Sinn. Wo nun der Eigen-Sinn der überwiegenden Zahl möglicher Mittel der Selbstbehauptung böse ist, so ist auf der Linie des Bösen offenbar viel leichter Vollendung zu erreichen, als auf der des Guten. Deshalb schwebt beinahe jedem als Sinnbild irdischer Vollendung von Instinkt wegen ein Böser vor. Wenigstens gilt dies vom Christen. Es ist das schlimmste Verhängnis dieser Menschenart, dass ihr zur Bejahung der Größe als solcher die Voraussetzungen fehlen, denn ursprünglich sollten die Ersten ja die Letzten sein, weswegen es sie nicht unbefangen sieht. Der Grieche konnte seine schönen Götter ohne Weiteres gut denken, da sein Begriff von Güte amoralisch und hyperethisch war. Stellt man nun die Alternative Gut oder Böse, dann gibt es keine andere befriedigende Lösung als die frühchristliche: nämlich dass Leiden besser sei als Tun, Häßlichkeit mehr als Schönheit und Niedrigkeit mehr als Macht.

1 Diesen Gedankengang führt das nächste Kapitel zu Ende.
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Das ethische Problem
© 1998- Schule des Rades
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